Rz. 67

Das BVerfG hat im Rahmen der Umsetzung einer Patientenverfügung im Maßregelvollzug im Jahr 2021 die Ermittlung des Patientenwillens als notwendig zweischrittig beschrieben:

Zitat

"Der unbedingte Vorrang individueller Selbstbestimmung auf der Grundlage des allgemeinen Persönlichkeitsrechts setzt voraus, dass der Betroffene seine Entscheidung mit freiem Willen und im Bewusstsein über ihre Reichweite getroffen hat. Ob die im Rahmen einer Patientenverfügung vorab festgelegte Ablehnung einer bestimmten Behandlung diese Anforderung erfüllt, ist anhand einer zweistufigen Prüfung zu beantworten: Die Erklärung muss im Zustand der Einsichtsfähigkeit in die Bedeutung ihres Aussagegehalts abgegeben worden sein. Einsichtsfähig ist, wer Art, Bedeutung und Tragweite der Maßnahme zu erfassen und seinen Willen hiernach zu bestimmen vermag (…). Ob ein Betroffener einsichtsfähig war, als er eine bestimmte Behandlung ablehnte, müssen die Gerichte auf der ersten Stufe – gegebenenfalls mit sachverständiger Hilfe – aufklären. Steht – wie hier – ein schwerwiegender Eingriff in ein hochrangiges Grundrecht in Frage, dürfen allerdings Unklarheiten in der Bewertung von Tatsachen grundsätzlich nicht zu Lasten des Grundrechtsträgers gehen."

Auf der zweiten Stufe ist der Inhalt der Erklärung daraufhin auszulegen, ob dieser hinreichend bestimmt und die konkrete Behandlungssituation von der Reichweite der Erklärung umfasst ist. Dies kann nach denselben Maßstäben beurteilt werden, die für die unmittelbare Bindungswirkung einer Patientenverfügung im Sinne von § 1901a Abs. 1 BGB gelten. Nach der Rechtsprechung des Bundesgerichtshofs muss die Erklärung einerseits konkret die Behandlungssituation beschreiben, in der sie gelten soll, und andererseits die ärztliche Maßnahme bezeichnen, in die der Erklärende einwilligt oder die er untersagt. Es muss sich feststellen lassen, in welcher Behandlungssituation welche ärztlichen Maßnahmen durchgeführt werden beziehungsweise unterbleiben sollen. Insgesamt dürfen die Anforderungen an die Bestimmtheit nicht überspannt werden. Vorausgesetzt werden kann danach nur, dass der Betroffene umschreibend festlegt, was er in einer bestimmten Lebens- und Behandlungssituation will und was nicht. Hierzu gehört auch zu überprüfen, ob die vom Betroffenen in der Patientenverfügung in Bezug genommene Situation auch die etwaigen Konsequenzen einer ausbleibenden Behandlung, wie den Eintritt schwerster, gar irreversibler Schäden oder einer Chronifizierung des Krankheitsbildes mit den entsprechenden Folgen etwa für die Fortdauer einer freiheitsentziehenden Maßnahme erfasst. Abstrakte, einer weiteren Wertung unterliegende Behandlungsanordnungen wie etwa eine "würdevolle" oder "angemessene" Behandlung genügten nicht; jedoch kann vom Erklärenden auch kein medizinisches Fachwissen verlangt werden oder die Vorausahnung seiner Biographie als Patient (…). Liegen diese Voraussetzungen für eine bindende Erklärung vor, so ist diese Ausdruck des freien Willens des Erklärenden und schließt eine Zwangsbehandlung, die sich zur Rechtfertigung allein auf den Schutz des Betroffenen selbst stützt, auch im Maßregelvollzug aus. Allerdings ist fortlaufend zu überprüfen, ob die jeweiligen Umstände und Krankheitssituationen noch von der Patientenverfügung gedeckt sind.“[101]

 

Rz. 68

§ 1901b BGB – ab 1.1.2023 § 1828 BGB – ist die auch heute noch vielfach verkannte – Umsetzungsnorm zur Realisierung der Patientenverfügung oder notfalls des mutmaßlichen Willens des Betreuten oder Vollmachtgebers. Es bedarf – und zwar unabhängig von der Schwere einer gesundheitlichen Beeinträchtigung – des Gespräches nach § 1828 BGB (§ 1901b BGB a.F.), der Begründung einer therapeutischen Arbeitsgemeinschaft zwischen Arzt und Patientenvertreter.[102]

[101] BVerfG, Beschl. v. 8.6.2021 – 2 BvR 1866/17 Rn 74 ff. (Hervorhebungen durch die Verfasserin).
[102] Siehe Empfehlung der Bundesärztekammer und der zentralen Ethikkommission bei der Bundesärztekammer zum Umgang mit Vorsorgevollmacht und Patientenverfügung in der ärztlichen Praxis (25.10.2018), DÄBl 2018, 2434, 2439 (siehe Anhang I im 6. Teil in diesem Buch).

I. Wer prüft was?

 

Rz. 69

Der behandelnde Arzt hat zu prüfen, welche medizinische Maßnahme im Hinblick auf den Gesamtzustand und die Prognose des Patienten konkret indiziert ist. Diese konkret indizierte Maßnahme ist mit dem Betreuer/Bevollmächtigten zu erörtern. Jeder Vorsorgebevollmächtigte/Betreuer muss für die Einwilligung in die Behandlung des Vollmachtgebers/Betreuten immer höchstpersönlich feststellen, ob die Maßnahme oder deren Unterlassung/Beendigung

dem Willen des Betroffenen aus seiner Patientenverfügung oder einem Behandlungswunsch entspricht oder zumindest
dem mutmaßlichen Willen des Betroffenen entspricht und ob
die Entscheidung der Genehmigung durch das Betreuungsgericht bedarf oder nicht.[103]
 

Rz. 70

Bei der Feststellung des Patientenwillens nach § 1827 Abs. 1 BGB (§ 1901a Abs. 1 BGB a.F.) sowie seiner Behandlungswünsche oder seines mutmaßlichen Willens nach § 1828 BGB

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