Rz. 120

Nicht selten entbrennt unter Geschwistern nach dem Erbfall aufgrund Zuwendungen im Zuge der vorweggenommenen Erbfolge Streit darüber, ob Pflichtteilsergänzungsansprüche aufgrund dieser Zuwendungen gemäß §§ 2325 ff. BGB bestehen. Bekanntlich wird gemäß § 2325 BGB der Wert der Schenkungen, die in den letzten zehn Jahren vor dem Erbfall vorgenommen wurden, dem Nachlasswert zugerechnet, wobei seit dem 1.1.2010 gemäß § 2325 Abs. 3 BGB mit jedem zwischen Schenkung und Erbfall vergangenen Jahr der zu berücksichtigende Wert des Schenkungsgegenstands um 1/10 geringer wird (“so genannte "Abschmelzungslösung"). Als Ergänzungsanspruch zum Pflichtteil kann der Pflichtteilsberechtigte den Betrag verlangen, um den sich der Pflichtteil bei fiktiver Hinzurechnung des Wertes der weggeschenkten Gegenstände erhöht. Seit der Entscheidung des Bundesgerichtshofs vom 23.5.2012 ist geklärt, dass die Pflichtteilsberechtigung nicht bereits im Zeitpunkt der Schenkung bestanden haben muss.[204] Den Pflichtteilsergänzungsanspruch kann aber nicht nur ein Pflichtteilsberechtigter stellen, der völlig enterbt ist, sondern gemäß § 2326 BGB auch der pflichtteilsberechtigte Erbe.

 

Beispiel

Die Übergeberin hinterlässt ihren mit ihr in Zugewinngemeinschaft lebenden Ehemann und eine Tochter. Der Ehemann ist zu ¾ als Erbe eingesetzt, die Tochter (i.H.d. Pflichtteils) zu ¼. Vor dem Tod hat die Übergeberin ihrem Gatten Geschäftsanteile an einer GmbH im Wert von 500.000 EUR geschenkt. Der Nachlasswert beträgt eine Mio. EUR. Der Wert der Erbschaft der Tochter beträgt somit 250.000 EUR. Wird allerdings der Wert der Schenkung dem Nachlass zugerechnet, so ergibt sich ein Nachlasswert von 1,5 Mio. EUR und ein fiktiver Wert des Pflichtteils der Tochter (¼) von 375.000 EUR. Die Tochter kann daher als Pflichtteilsergänzung 125.000 EUR verlangen.

 

Rz. 121

Häufig wird aber in diesem Zusammenhang die Regelung des § 2327 BGB übersehen. Hat der Gläubiger des Pflichtteilsanspruchs – hier im Fall die Tochter – selbst eine Schenkung vom Übergeber erhalten, so ist diese Schenkung auf den Ergänzungsanspruch anzurechnen. Dabei, und dass ist das Besondere, ist diese Anrechnungsvorschrift völlig unabhängig davon, wann die in Frage stehende Schenkung vorgenommen wurde (es findet also keine Beschränkung auf eine Zehn-Jahres-Frist bzw. keine Abschmelzung nach § 2325 Abs. 3 BGB statt) und ob der schenkende Übergeber bei der Schenkung eine derartige Anrechnung auf den Pflichtteil verfügt hat, wie dies etwa bei § 2315 BGB erforderlich ist.[205]

 

Beispiel

Hat die Tochter in dem vorstehenden Beispielsfall selbst 100.000 EUR von der Mutter lebzeitig geschenkt bekommen, erhöht sich der fiktive Nachlasswert auf 1,6 Mio. EUR. Der fiktive Wert des Pflichtteils der Tochter (¼) beträgt dann 400.000 EUR. Die Tochter kann daher als Pflichtteilsergänzung nur 50.000 EUR (400.000–250.000–100.000) verlangen.

[204] Vgl. BGH, 23.5.2012 – IV ZR 250/1, NJW 2012, 2730 mit der Aufgabe der so genannten "Theorie der Doppelberechtigung".
[205] Vgl. Kerscher/Riedel/Lenz, Pflichtteilsrecht, § 9 Rn 134 f.

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