Rz. 41

Rechtliche wie praktische Schwierigkeiten entstehen, wenn in einem Betrieb mehrere Tarifverträge nach ihrem fachlichen und persönlichen Geltungsbereich einschlägig sind. Dies bezeichnet das BAG als Tarifkollision. Dieser Begriff ist die übergreifende Bezeichnung für die Fälle der Tarifkonkurrenz und der Tarifpluralität, welche unterschieden werden müssen.

 

Rz. 42

Tarifkonkurrenz liegt vor, wenn für ein- und dasselbe Arbeitsverhältnis zwei verschiedene Tarifverträge mit gleichem Regelungsgegenstand gelten (vgl. nur BAG v. 20.3.1991 – 4 AZR 455/90). Dies ist etwa der Fall, wenn dieselbe Gewerkschaft einen für allgemein verbindlich erklärten Branchentarifvertrag und mit dem branchenzugehörigen Arbeitgeber zudem einen Firmentarifvertrag geschlossen hat. Beide Arbeitsvertragsparteien – vorausgesetzt der Arbeitnehmer ist Mitglied der betreffenden Gewerkschaft – sind dann an dieselben zwei Tarifverträge gebunden.

 

Rz. 43

Tarifpluralität entsteht z.B., wenn verschiedene Gewerkschaften mit demselben Arbeitgeber bzw. mit demselben Arbeitgeberverband, wessen Mitglied der Arbeitgeber ist, verschiedene Tarifverträge mit gleichem Regelungsgegenstand geschlossen haben, in deren fachlichen Geltungsbereich der Betrieb fällt. Es finden dann, je nach Gewerkschaftszugehörigkeit der Arbeitnehmer, unterschiedliche Tarifverträge auf die bestehenden Arbeitsverhältnisse Anwendung. Der Arbeitgeber ist an beide, die Arbeitnehmer sind jeweils nur an den von ihrer Gewerkschaft geschlossenen Tarifvertrag gebunden (BAG v. 20.3.1991 – 4 AZR 455/90). Kein Fall von Tarifpluralität ist es, wenn auf Gewerkschaftsseite zwar mehrere Gewerkschaften beteiligt sind, diese aber völlig inhaltsgleiche Tarifverträge oder gar gemeinsam denselben Tarifvertrag abschließen (Letzteres etwa die – frühere – Situation im Einzelhandel [HBV, DAG] und im öffentlichen Dienst [ÖTV, GEW, DAG]).

 

Rz. 44

Wenn sich nicht aus den Bestimmungen über den Geltungsbereich der konkurrierenden Tarifverträge selbst (durch Auslegung) Kollisionsregelungen ergeben, wird die Tarifkonkurrenz aufgelöst nach Maßgabe des sog. Grundsatzes der Spezialität. Ihm zufolge geht bei Doppelgeltung zweier Tarifverträge der speziellere Tarifvertrag, also derjenige, welcher dem Betrieb in räumlicher, betrieblicher, fachlicher und persönlicher Ausrichtung am nächsten steht und deshalb den Erfordernissen des Betriebs am ehesten gerecht wird, vor (st. Rspr. seit BAG v. 22.2.1957 – 1 AZR 536/55). Dabei sind stets Firmentarifverträge als die spezielleren ggü. Verbandstarifverträgen bzw. für allgemein verbindlich erklärten Tarifverträgen anzusehen (BAG v. 23.3.2005 – 4 AZR 203/04; BAG v. 15.4.2008 – 9 AZR 159/07).

 

Rz. 45

Früher löste das BAG Fälle der Tarifpluralität nach Maßgabe des Spezialitätsgrundsatzes auf (BAG v. 20.3.1991 – 4 AZR 455/90) – auch mit Wirkung für die Arbeitsverhältnisse solcher Arbeitnehmer, die der den spezielleren Tarifvertrag schließenden Gewerkschaft nicht angehörten. Um der Tarifeinheit im Betrieb willen, die es seinerseits aus Gründen der Rechtssicherheit, der Rechtsklarheit und der Praktikabilität für unabdingbar hielt, nahm das BAG eine der Allgemeinverbindlicherklärung widersprechende Tarifentbindung und einen Verstoß gegen die Betätigungsfreiheit der Koalitionen in Kauf.

 

Rz. 46

Mit Urt. v. 7.7.2010 hat das BAG den Grundsatz der Tarifeinheit aufgehoben und somit die lang erwartete Änderung der Rechtsprechung vollzogen (BAG, 7.7.2010 – 4 AZR 549/08). Das BAG hat mit dieser Entscheidung der Tarifpluralität den Weg geebnet. Das BAG begründet seine Entscheidung damit, dass die Rechtsnormen eines Tarifvertrages nach §§ 3 Abs. 1, 4 Abs. 1 TVG in den jeweiligen Arbeitsverhältnissen eines Betriebes unmittelbar und zwingend gelten. Die Tarifpluralität sei im System des TVG angelegt. Mangels einer planwidrigen Gesetzeslücke könne eine Verdrängung bestehender Tarifverträge im Fall einer Tarifpluralität weder im Wege richterlicher Rechtsfortbildung noch durch einen Grundsatz der Tarifeinheit begründet werden. Ein solcher könne weder auf eine gewohnheitsrechtlich anerkannte Rechtsgrundlage noch auf übergeordnete Prinzipien der Rechtssicherheit oder der Rechtsklarheit gestützt werden. Auch vor dem Hintergrund der im Grundgesetz verankerten Koalitionsfreiheit (Art. 9 Abs. 3 GG) stelle die bisherige Verdrängung nach dem Grundsatz der Spezialität einen nicht gerechtfertigten Eingriff sowohl in die kollektive Koalitionsfreiheit der tarifschließenden Gewerkschaft als auch in die individuelle Koalitionsfreiheit des an diesen gebundenen Gewerkschaftsmitglieds dar.

 

Rz. 47

Spartengewerkschaften sind Gewerkschaften, welche zwar nur einen verhältnismäßig kleinen Teil der Arbeitnehmer vertreten, aber aufgrund ihres hohen Spezialisierungsgrades über eine sehr effektive Streikmacht verfügen (z.B. Marburger Bund, GDL, Vereinigung Cockpit). Aufgrund des grundrechtlichen Schutzes des Streikrechts wurde den Spartengewerkschaften ein Streikrecht zugebilligt (Hessisches LAG v. 2.5.2003 – 9 Sa Ga 638/03; LAG R...

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