Rz. 315

Nach § 531 Abs. 2 Nr. 1 ZPO sind neue Angriffs- und Verteidigungsmittel zuzulassen, wenn sie einen vom Erstrichter erkennbar übersehenen oder für unerheblich gehaltenen Gesichtspunkt betreffen. Die Rechtsansicht des Erstgerichts muss den erstinstanzlichen Vortrag der Partei auch beeinflusst haben und (mit-)ursächlich dafür geworden sein, dass sich Parteivorbringen in das Berufungsverfahren verlagert.[481] Dies ist etwa dann anzunehmen, wenn das Gericht des ersten Rechtszugs die Partei durch seine Prozessleitung oder seine erkennbare rechtliche Beurteilung des Streitverhältnisses davon abgehalten hat, zu bestimmten Gesichtspunkten (weiter) vorzutragen.[482] Dies soll auch dann gegeben sein, wenn der Beklagte auf die Klage nicht erwidert und anschließend die "Flucht in die Säumnis" angetreten hat, das erstinstanzliche Gericht jedoch kein Versäumnisurteil gegen den Beklagten erlassen, sondern die Klage abgewiesen hat.[483]

 

Rz. 316

Zuzulassen ist neues Vorbringen danach, wenn

das erstinstanzliche Gericht einen Gegenbeweisantrag schon mangels substantiierten Vortrages der beweisbelasteten Partei für entbehrlich hielt, der Berufungskläger aber im Hinblick darauf, dass das Berufungsgericht dies anders sehen könnte oder bereits auf eine andere Sichtweise hingewiesen hat, den Gegenbeweis nunmehr in der zweiten Instanz anbieten möchte;
das erstinstanzliche Gericht aufgrund eines unvollständigen gerichtlichen Hinweises den Eindruck erweckt hat, weiteres Vorbringen sei nicht erforderlich;[484]
es entscheidungserhebliche Gesichtspunkte betrifft, die das Gericht des ersten Rechtszugs aufgrund einer fehlerhaften Beurteilung der Rechtslage übersehen hat; unter dieser Voraussetzung ist auch einem erstmals in zweiter Instanz gestellten Antrag auf Anhörung eines Sachverständigen gem. §§ 402, 397 ZPO stattzugeben.[485]
 

Rz. 317

 

Hinweis

Die Mitursächlichkeit der nach Auffassung des Berufungsgerichts fehlerhaften Rechtsauffassung des erstinstanzlichen Gerichts für die Verlagerung des neuen Parteivorbringen in die Berufungsinstanz ist grundsätzlich schon dann gegeben, wenn das Gericht des ersten Rechtszugs, hätte es die später vom Berufungsgericht für zutreffend erachtete Rechtsauffassung geteilt, zu einem Hinweis nach § 139 Abs. 2 ZPO verpflichtet gewesen wäre. Der Anwendung des § 531 Abs. 2 S. 1 Nr. 1 ZPO steht dann nicht entgegen, dass die erstinstanzliche Geltendmachung des neuen Angriffs- oder Verteidigungsmittels auch aus Gründen unterblieben ist, die eine Nachlässigkeit der Partei nach § 531 Abs. 2 S. 1 Nr. 3 ZPO tragen.[486]

[482] BGH NJW-RR 2017, 72, 74.
[483] BGH NJW 2015, 3455, 3457.

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