Rz. 286

Bei unstreitigem Sachverhalt bzw. vom Berufungskläger nicht als angreifbar anzusehenden Tatsachenfeststellungen kann die Berufung darauf gestützt werden, die entscheidungserhebliche materiell-rechtliche Rechtsanwendung des erstinstanzlichen Gerichts zu beanstanden.

 

Rz. 287

 

Beispiel

Ein in der Praxis häufiger Berufungsangriff stellt die unzutreffende Anwendung der Auslegungsgrundsätze (§§ 133, 157 BGB) dar. Das Berufungsgericht hat die erstinstanzliche Auslegung einer Vereinbarung gem. §§ 513 Abs. 1, 546 ZPO – auf der Grundlage der nach § 529 ZPO maßgeblichen Tatsachen – in vollem Umfang darauf zu überprüfen, ob die Auslegung überzeugt.[432] Hält es die erstinstanzliche Auslegung lediglich für eine vertretbare, letztlich aber bei Abwägung aller Gesichtspunkte nicht überzeugende Auslegung, hat es selbst die Auslegung vorzunehmen, die es als Grundlage einer sachgerechten Entscheidung des Einzelfalls für geboten hält.[433]

 

Rz. 288

Die hinreichende Darlegung der Rüge muss nach § 520 Abs. 2 Nr. 2 ZPO keinen besonderen formalen Anforderungen genügen; eine pauschale Sachrüge reicht indes nicht. Erforderlich ist die auf den Streitfall zugeschnittene Darlegung, in welchen Punkten und aus welchen materiellrechtlichen Gründen der Berufungskläger das angefochtene Urteil für unrichtig hält.[434] Einer ausdrücklichen Benennung einer bestimmten Norm bedarf es nicht, soweit aus den mitgeteilten Rechtsansichten deutlich wird, worin der Rechtsfehler gesehen wird.[435] Es muss also nur deutlich werden, dass der Berufungskläger den rechtlichen Ansatz des erstinstanzlichen Gerichts nicht gelten lassen will. Auch hier ist Schlüssigkeit nicht erforderlich, um eine zulässige Berufungsbegründung vorzulegen[436] und damit eine vollumfängliche Überprüfung des angegriffenen Urteils durch das Berufungsgericht zu veranlassen. Nicht ausreichend ist die bloße Bezugnahme auf erstinstanzlichen Vortrag.[437] Zur Bezeichnung des Umstands, aus dem sich die Entscheidungserheblichkeit der Verletzung materiellen Rechts ergibt, genügt regelmäßig die Darlegung einer Rechtsansicht, die dem Berufungskläger zufolge zu einem anderen Ergebnis als dem des angefochtenen Urteils führt.[438]

 

Rz. 289

 

Hinweis

Die Unterstützung der eigenen Rechtsansicht durch Verweise auf Rechtsprechung und Schrifttum ist stets sinnvoll. Unterlässt der Rechtsanwalt den Hinweis auf ein BGH-Urteil, welches die Rechtsauffassung seines Mandanten stützt, und verliert der Mandant deshalb den Prozess, wird der Zurechnungszusammenhang zwischen dem Fehler des Rechtsanwalts und dem dadurch entstandenen Schaden nicht deswegen unterbrochen, weil auch das Gericht die Entscheidung des BGH übersehen hat.[439]

[432] BGH NJW 2016, 3015, 3017.
[434] BGH NJW 2003, 2532, 2533.
[436] BGH NJW 2006, 142, 143.
[437] BGH NJW 1998, 602, 603.
[438] BGH NJW 2006, 142, 143.

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