aa) Ausgangslage

 

Rz. 271

Zur Begründung der Berufung sind verschiedene Argumentationsansätze denkbar. So kann der Berufungskläger beanstanden, dass das erstinstanzliche Gericht verfahrensrechtliche oder materiellrechtliche Vorschriften nicht zutreffend angewendet hat und bei zutreffender Anwendung im Sinne des Berufungsklägers hätte entscheiden müssen.[410] Die Reichweite und Funktion dieses Berufungsangriffs erschließt sich daraus, dass mit der Berufung die Herstellung derjenigen Entscheidung erreicht werden soll, die zustande gekommen wäre, wenn das erstinstanzliche Gericht die verfahrensrechtlichen und materiellrechtlichen Bestimmungen, so wie vom Berufungskläger gerügt, richtig angewendet hätte.[411]

 

Rz. 272

 

Hinweis

Zu achten ist immer darauf, dass die angefochtene Entscheidung auf der geltend gemachten Rechtsverletzung beruht. Die Berufung hat keinen Erfolg, wenn zwar eine Rechtsverletzung vorliegt, sich das Urteil aber im Ergebnis mit anderer Begründung aufrechterhalten lässt.[412] Ergibt sich die Entscheidungserheblichkeit einer gerügten Rechtsverletzung oder einer beanstandeten Tatsachenfeststellung unmittelbar aus dem angefochtenen Urteil in Verbindung mit den Ausführungen in der Berufungsbegründung, bedarf sie keiner gesonderten Darlegung in der Berufungsbegründung.[413]

[410] BGH NJW 1984, 177.
[412] BGH NJW 2004, 1876, 1878 f.
[413] BGH NZV 2015, 289.

bb) Verstoß gegen verfahrensrechtliche Vorschriften

 

Rz. 273

Der Berufungskläger kann seine Berufung auf den Verstoß gegen verfahrensrechtliche Bestimmungen stützen. Es genügt die Bezeichnung der Umstände, aus denen sich nach Ansicht des Berufungsklägers die Rechtsverletzung und deren Erheblichkeit für die angefochtene Entscheidung ergibt; es bestehen keine besonderen formalen Anforderungen.[414] Verfahrensmängel, die sich nicht aus dem Urteil selbst ergeben, müssen hinsichtlich ihrer Umstände bezeichnet werden.

 

Rz. 274

Trägt der Berufungskläger tatsächliche Umstände vor, die einen Verfahrensverstoß belegen, muss er aber ausführen, dass der Verfahrensverstoß gem. §§ 520 Abs. 3 S. 2 Nr. 2513 Abs. 1 ZPO erheblich war. Bei einer Verletzung des Anspruchs auf rechtliches Gehör ist zur Entscheidungserheblichkeit des Verfahrensfehlers darzulegen, was bei Gewährung des rechtlichen Gehörs vorgetragen worden wäre und dass nicht auszuschließen ist, dass dieser Vortrag zu einer anderen Entscheidung des Erstgerichts geführt hätte. Dieser Darlegung bedarf es nur dann nicht, wenn die Entscheidungserheblichkeit der Verletzung des Anspruchs auf rechtliches Gehör unmittelbar und zweifelsfrei aus dem bisherigen Prozessstoff ersichtlich ist.[415]

 

Rz. 275

 

Hinweis

An einer hinreichenden Verdeutlichung des Berufungsangriffs fehlt es etwa, wenn lediglich auf Vorbringen in der Klageschrift verwiesen und ein Gehörsverstoß wegen Verletzung der Hinweispflicht gerügt wird, ohne auszuführen, was auf einen entsprechenden Hinweis vorgetragen worden wäre.[416] Entsprechendes gilt für die Rüge eines Verfahrensmangels nach § 285 Abs. 1 ZPO.[417]

 

Rz. 276

Nicht alle Verfahrensverstöße in erster Instanz sind indes in der Berufungsinstanz relevant. Vielmehr ist zu differenzieren. Hat die Partei eine ihr Rügerecht nach § 295 ZPO durch rügeloses Verhandeln in erster Instanz verloren, kann der Verfahrensfehler auch in zweiter Instanz nicht mehr beanstandet werden. Für verzichtbare Zulässigkeitsrügen gilt § 532 ZPO; sie müssen innerhalb der Berufungsbegründungsfrist ausgeführt oder die Fristversäumung hinreichend entschuldigt werden.

 

Rz. 277

 

Beispiele

Folgende beispielhaft aufgeführte Verfahrensrügen müssen zur Vermeidung einer rügelosen Einlassung in der ersten Instanz erhoben werden:

fehlerhafte Klagezustellung,[418]
fehlende Beifügung der Anlagen zur Klageschrift,[419]
fehlende Unterschrift unter der Zustellungsurkunde durch den Zusteller,[420]
fehlerhafte Zustellung eines Schriftsatzes,[421]
Verstoß gegen die Einlassungs- und Ladungsfristen.[422]

Als verzichtbare Zulässigkeitsrüge ist etwa anzusehen:

Fehlen einer Ausländersicherheitsleistung gem. §§ 110 ff. ZPO,[423]
Verstoß gegen eine getroffene Schiedsvereinbarung,[424]
Einwand der mangelnden Kostenerstattung aus einem früheren Prozess (§ 269 Abs. 6 ZPO).
 

Rz. 278

Ist eine Rüge durch rügeloses Verhandeln in der ersten Instanz gem. § 295 i.V.m. § 534 ZPO verloren gegangen, kann der Berufungskläger überlegen, ob er den Berufungsangriff – statt auf § 520 Abs. 3 S. 2 Nr. 2 ZPO – auf § 520 Abs. 3 S. 2 Nr. 3 ZPO (fehlerhafte Tatsachenfeststellung) stützt.

 

Rz. 279

 

Beispiel

Ist es erstinstanzlich versäumt worden zu rügen, dass ein Zeuge unzulässigerweise nicht über sein Zeugnisverweigerungsrecht belehrt wurde, kann ein Berufungsangriff zwar nicht nach § 520 Abs. 3 S. 2 Nr. 2 ZPO erhoben werden; der Berufungskläger kann aber unter dem Aspekt des § 520 Abs. 3 S. 2 Nr. 3 ZPO beanstanden, dass der Zeuge nicht glaubwürdig war, wenn er dies in seiner Berufungsbegründung darlegt und die Relevanz der Unglaubwürdigkeit des Zeugen ...

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