Rz. 974

Die Sozialversicherungspflicht tritt grds. rückwirkend mit dem Tag des Eintrittes in das Beschäftigungsverhältnis ein, auch wenn dieser Zeitpunkt Monate oder Jahre zurückliegt. Schuldner der gesamten Sozialversicherungsbeiträge einschließlich des Arbeitnehmeranteiles ist nach § 28e Abs. 1 SGB IV der Arbeitgeber (vgl. zu den Konsequenzen im Fall einer Arbeitgeberinsolvenz, Rittweger, NZA 2016, 338).

 

Rz. 975

Die Höhe der nachzuentrichtenden Sozialversicherungsbeiträge richtet sich nach den vom Arbeitgeber zu erbringenden Beitragsnachweisen. Kommt der Arbeitgeber seiner Pflicht zur Mitteilung der Bezüge seines Arbeitnehmers nicht gem. § 28f Abs. 3 S. 1 SGB IV nach, ist es zulässig, die Beiträge durch Schätzung festzulegen (vgl. BSG v. 4.9.2018 – B 12 R 4/17 R m.w.N., dazu Bissels/Falter, jurisPR-ArbR 3/2019 Anm. 6; LSG Hamburg v. 19.4.2006 – L 1 KR 35/05). Dies gilt auch, wenn die für die Sozialversicherungsbeiträge in Anspruch genommene Person davon ausging, nicht Arbeitgeber i.S.v. § 28f Abs. 1 und 3 SGB IV zu sein, und keine entsprechenden Aufzeichnungen in deutscher Sprache geführt hat (vgl. LSG Niedersachsen-Bremen v. 28.2.2018 – L 2 R 258/17, juris). Regelmäßig geht es um große Beträge.

 

Praxishinweis

Die Gesamtsummen der jährlich in Rede stehenden Beitragsnachforderungen der Sozialversicherungsträger sind immens und steigend!
Während im Jahr 2011 bereits weit über eine halbe Milliarde Euro (vgl. Rittweger, DB 2011, 2147) an Nachforderungen genannt wurden, wurden im Jahr 2016 nahezu 1 Milliarde EUR jährlich (vgl. Rittweger, NZA 2016, 338) genannt.
 

Rz. 976

Hinzu können Säumniszuschläge gem. § 24 SGB IV i.H.v. 1 % pro Monat ab drittletztem Bankarbeitstag des Beschäftigungsverhältnisses kommen. Das sind 12 %/Jahr! Nach § 24 Abs. 1 SGB IV sind Säumniszuschläge bereits ab 50 EUR Gesamt-Beitragsrückstand festzusetzen, bei einem (Gesamt-)Betrag, der unter 50 EUR liegt, sind keine Säumniszuschläge zu erheben (vgl. BSG v. 7.7.2020 – B 12 R 28/18 R, juris Rn 11). In der Summe können Beitragsnachforderungen plus Säumniszuschläge existenzbedrohend sein.

 

Beispiel

Bei einer Nachforderung für Sozialversicherungsbeiträge von 150.000 EUR für die Beschäftigung von drei vermeintlich Freien Mitarbeitern/Solo-Selbstständigen für drei Jahre (50.000 pro Mitarbeiter x 3 Mitarbeiter x 3 Jahre) können weitere rd.150.000 EUR an Säumniszuschlägen, also insgesamt 300.000 EUR, anfallen.
Bei einer gezahlten Vergütung von rd. 300.000 EUR ergibt dies addiert bereits einen Betrag von 600.000 EUR, zuzüglich Anwaltskosten und sonstigen Aufwendungen.
Hinzu kommen regelmäßig weitere erhebliche Nachforderungen für nicht abgeführte Lohnsteuer, wodurch sich der Betrag von 600.000 EUR noch weiter deutlich in Richtung eine Million erhöht.
Dies alles ist regelmäßig nicht kalkuliert.
Eine solche – in der Regel existenzgefährdende – Erfahrung sollte/möchte keiner erleben.
Das Beispiel unterstreicht das große Risiko, was es unbedingt zu vermeiden gilt.

Hilfreich kann in diesem Fall für den Arbeitgeber (nur) sein, wenn die Nichtabführung der Sozialversicherungsbeiträge unverschuldet gewesen ist (vgl. Weiss-Bölz, DStR 2019, 1581 Exkulpationsmöglichkeit). Insofern kommt in der Praxis der Frage der "Unverschuldetheit" i.S.v. § 24 Abs. 2 SGB IV große Bedeutung zu.

 

Rz. 977

Denn wird eine Beitragsforderung durch Bescheid mit Wirkung für die Vergangenheit festgestellt, ist gem. § 24 Abs. 2 SGB IV ein darauf entfallender Säumniszuschlag nicht zu erheben, soweit der Beitragsschuldner glaubhaft macht, dass er unverschuldet keine Kenntnis von der Zahlungspflicht hatte. Im Fall eines eingeführten Speditionsinhabers entschied das LSG Bayern, dass dieser objektiv und subjektiv in der Lage gewesen sei, zu erkennen, dass zwischen den von ihm angestellten Fahrer und dem von ihm als selbstständig behandelten Fahrer keine wesentliche Unterscheidung getroffen werden konnte, daher wurden Säumniszuschläge fällig (vgl. LSG Bayern v. 9.5.2012 – L 5 R 23/12). Dabei ist zu berücksichtigen, dass der Verzicht auf einen Antrag nach § 7a Abs. 1 S. 1 SGB IV vorwerfbar sein kann (vgl. Uffmann, RdA 2019, 360 ff., 363, 364 u. Fn. 50; BGH v.13.12.2018 – 5 StR 275, juris; BSG v. 9.11.2011 – B 12 R 18/09 R, DStR 2012, 662 = SGb 2012, 26; relativiert durch BSG v. 12.12.2018 – B 12 R 15/18 R, juris s. nachfolgende Rdn).

 

Rz. 978

Umso erfreulicher ist es, dass (zumindest) das BSG diese für die Praxis sehr relevante Linie relativiert hat. Das BSG hat ausgeführt, dass damit nicht das gesamte Risiko der Einordnung komplexer sozialversicherungsrechtlicher Wertungsfragen den Arbeitgebern überantwortet werden soll. Es sei eine Frage der sorgfältigen Beweiswürdigung im Einzelfall, ob von dem Verzicht auf eine Klärung auf mindestens bedingten Vorsatz geschlossen werden kann. Damit geht das BSG auf Distanz zu der allgemein zu beobachten Praxis der Sozialversicherungsträger, die davon ausgehen, dass bei jeder Form von Unklarheit eine Status-Entscheidung herbeigeführt werden müsse (vgl. ...

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