Rz. 768

Weder die arbeitsrechtlichen Spezialgesetze noch das BGB trafen bis zur Einfügung des § 611a BGB in das BGB klare Regelungen zu freien Mitarbeitern oder Solo-Selbstständigen. Lediglich im HGB fand sich recht allgemein die Formulierung in § 84 Abs. 1 S. 2 HGB, dass "selbstständig ist, wer im Wesentlichen frei seine Tätigkeit gestalten und seine Arbeitszeit bestimmen kann" (sog. Tätigkeitsgestaltungsfreiheit und Arbeitszeithoheit, vgl. LAG Hamm v. 30.5.2001 – 4 [19] Sa 1773/00). Zwar galt diese Regelung unmittelbar nur für die Abgrenzung des selbstständigen Handelsvertreters vom abhängig beschäftigtem kaufmännischen Angestellten. Nach Auffassung des BAG und der herrschenden Lehre sowie auch nach der Rspr. des BGH enthielt die Bestimmung jedoch über ihren unmittelbaren Anwendungsbereich hinaus mit dem ausschlaggebenden Kriterium für die Arbeitnehmereigenschaft – der persönlichen Abhängigkeit – eine allgemeine gesetzgeberische Wertung, die bei der Abgrenzung des Dienstvertrages vom Arbeitsvertrag zu beachten sei (vgl. Hopt, HGB, § 84 HGB Rn 35). Damit erfolgte die Abgrenzung zur Scheinselbstständigkeit, d.h. der selbstständigen Tätigkeit als freier Mitarbeiter von der unselbstständigen Tätigkeit als Arbeitnehmer, über den Arbeitnehmerbegriff. Jahrzehntelang wurde – mangels einer gesetzlichen Regelung – der Arbeitnehmerbegriff (allein) von der Rechtsprechung definiert.

 

Rz. 769

Seit 1.4.2017 gilt § 611a Abs. 1 S. 1 BGB (Legaldefinition des Arbeitsvertrags, vgl. BAG v. 30.11.2021 – 9 AZR 145/21, juris Rn 29/30); darin heißt es:

 

Durch den Arbeitsvertrag wird der Arbeitnehmer im Dienste eines anderen zur Leistung weisungsgebundener, fremdbestimmter Arbeit in persönlicher Abhängigkeit verpflichtet.

Dadurch wird mittelbar zugleich der Arbeitnehmerbegriff definiert, der danach folgerichtig wie folgt lautet (vgl. Henssler, Arbeitnehmerüberlassung, Solo-Selbstständige und Werkverträge, § 2 Rn 14):

Zitat

Arbeitnehmer ist, wer aufgrund eines privatrechtlichen Vertrages im Dienste eines anderen zur Leistung weisungsgebundener, fremdbestimmter Arbeit in persönlicher Abhängigkeit verpflichtet ist.

Aus § 611a Abs. 1 S. 2 BGB folgt, dass das Weisungsrecht Inhalt, Durchführung, Zeit und Ort der Tätigkeit betreffen kann. Zu Recht weist Henssler darauf hin, dass damit im Grunde der Inhalt des Satzes 3, nach dem zugleich im Umkehrschluss zu § 84 HGB als weisungsgebunden derjenige erklärt wird, der nicht im Wesentlichen frei seine Tätigkeit gestalten und seine Arbeitszeit bestimmen kann, schon vorweggenommen ist (vgl. Henssler/Grau, Arbeitnehmerüberlassung, Solo-Selbstständige und Werkverträge, § 2 Rn 16). § 611a Abs. 1 S. 4 BGB hält fest, dass die bereits als zentrales Merkmal in S. 1 vorgegebene persönliche Abhängigkeit auch von der Eigenart der jeweiligen Tätigkeit abhängt. Neu ist auch nicht, dass eine Gesamtbetrachtung aller Umstände vorzunehmen ist (§ 611a Abs. 1 S. 5 BGB). Gleiches gilt für die Vorschrift in § 611a Abs. 1 S. 6 BGB, wonach es – wie bisher – auf die Bezeichnung im Vertrag nicht ankommt, wenn die tatsächliche Durchführung des Vertragsverhältnisses zeigt, dass es sich um ein Arbeitsverhältnis handelt (Abgrenzung zur Scheinselbstständigkeit).

 

Praxishinweis

1. Der Arbeitnehmerbegriff des § 611a Abs. 1 BGB gilt nur für das Arbeitsrecht.
2. Während im ersten – bereits missglückten (vgl. Henssler, RdA 2016,18 ff.) – Referentenentwurf vom 16.11.2015 das BMAS mit einem – wenn auch halbherzigen – Schritt in § 611a Abs. 3 BGB der Entwurfsfassung versucht hatte, zumindest eine gewisse Angleichung des Sozialversicherungsrechts mit dem Arbeitsrecht herbeizuführen (allerdings bedauerlicherweise bereits unter Ausklammerung des Steuerrechts), hat das BMAS im überarbeiteten zweiten Referentenentwurf darauf bewusst vollständig verzichtet (s. oben Rdn 763 ff.; vgl. ferner Wiesenecker, ArbRB 2016, 115 Fn 17).
3. Sogar der im ersten Entwurf zu § 611a BGB enthaltene Begriff der "Eingliederung", der wörtlich im Gesetzestext zum sozialversicherungsrechtlichen Beschäftigtenbegriff in § 7 Abs. 1 SGB IV enthalten ist, wurde im zweiten Entwurf zu § 611a BGB gestrichen (vgl. Uffmann, NZA 2016, Editorial Heft 5).
4. Der Gesetzgeber hat es im Ergebnis bisher nicht geschafft, einen einheitlichen Arbeitnehmer-Begriff für alle betroffenen Rechtsgebiete (Arbeits-, Steuer- und Sozialversicherungsrecht) zu schaffen.
5. Wegen der weiterhin ungelösten, uneinheitlichen und widersprüchlichen Rechtslage bestehen in der Praxis vielfach immense Kostenrisiken und Rechtsunsicherheit, auch weil die Gerichtszweige untereinander in ein und demselben Sachverhalt keinerlei Bindungswirkung unterliegen (vgl. Henssler, NZA Beilage 3/2014, 95, 98).
 

Rz. 770

Der Vergleich mit der ständigen Rechtsprechung des BAG zum Arbeitnehmerbegriff zeigt im Übrigen, dass § 611a Abs. 1 BGB letztlich nur den Stand der höchstrichterlichen Rechtsprechung widerspiegelt (so ausdrücklich BAG v. 21.5.2019 – 9 AZR 295/18, juris Rn 13 am Ende; BAG v. 21.11. 2017 – 9 AZR 117/17, juris Rn 23 m...

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