1. Raubbauarbeit

 

Rz. 87

Grundsätzlich muss sich der Versicherte nicht gesundheitlich überfordern oder Raubbau an seiner Gesundheit betreiben. Alle überobligationsmäßigen Anstrengungen, die die Gefahr einer Verschlechterung des Gesundheitszustandes bergen, sind unzumutbar.[173] Raubbauarbeit liegt vor, wenn durch Fortsetzung der bisherigen Berufstätigkeit aufgrund nachgewiesener Beweisanzeichen die Prognose gestellt werden kann, dass es mit einem messbaren, rational begründbaren Grad von Wahrscheinlichkeit zu weiteren Gesundheitsschäden kommt, z.B. durch Nebenwirkungen von Medikamenten.[174] Bleibt hingegen offen, ob weitere Gesundheitsschäden durch die noch ausgeübte Tätigkeit eintreten, ist jedenfalls bei einer mehr als hälftigen Fortsetzung der konkreten Berufstätigkeit eine Berufsunfähigkeit nicht bewiesen.[175]

 

Rz. 88

Ein Arbeiten unter dauernden Schmerzen ist unzumutbar. Treten Schmerzen ab der Hälfte der vorherigen Arbeitszeit auf und sind sie nur durch aufwendige Gegenmaßnahmen vermeidbar, die in einen normalen Arbeitsalltag nicht integrierbar sind, ist dies nicht zumutbar.[176]

 

Rz. 89

Auch das Eingehen von gesundheitlichen Risiken bei der Berufsausübung kann zur Unzumutbarkeit führen. Es ist eine Abwägung aller Umstände erforderlich. Nicht jede abstrakt erhöhte Gefahr bei der Berufsausübung führt zur Unzumutbarkeit.

 

Beispiel

Die Marcumar-Therapie eines Facharbeiters für Schweißtechnik, der auch auf Leitern in bis zu sechs Metern Höhe arbeitet, führt zwar bei einem Absturz zur erhöhten Gefahr des Verblutens. Bei der erforderlichen Gesamtschau aller Umstände ist die Tätigkeit aber zumutbar, sofern der Grad der Wahrscheinlichkeit für einen konkreten Absturz wegen fehlender Einschränkung der körperlichen Leistungsfähigkeit gering ist.[177]

 

Rz. 90

Die Unzumutbarkeit der Berufsausübung muss in jedem Falle einen spezifischen Zusammenhang mit den gerade durch die Tätigkeit verbundenen Gefahren aufweisen. Daher führt ein erhöhtes Risiko dann nicht zur Annahme einer Unzumutbarkeit, wenn das Risiko im Alltag genauso besteht. So können z.B. bei einem Bluthochdruckpatienten auch privat veranlasste Tätigkeiten, wie das Autofahren, zu Stress führen, der sich nachteilig auf die Gesundheit auswirkt.[178]

 

Rz. 91

Setzt der Versicherte seine Berufstätigkeit fort, um seinen Lebensunterhalt bestreiten zu können, kann die faktische Weiterausübung des Berufes ein Indiz dafür sein, dass keine Unzumutbarkeit und damit keine Berufsunfähigkeit vorliegt.[179] Da die Bedingungen – anders als in der Krankentagegeldversicherung, die 100 %ige Arbeitsunfähigkeit vorsieht – nicht verlangen, dass die versicherte Person ihren Beruf nicht weiter ausübt,[180] ist grundsätzlich aber nur zu fragen, ob die gesundheitlichen Beeinträchtigungen eine bedingungsgemäße Berufsunfähigkeit rechtfertigen, da das Weiterarbeiten auch auf eine entsprechende innere Einstellung des Versicherten zu überobligationsmäßiger Leistung zurückzuführen sein kann.

[173] OLG Saarbrücken zfs 2016, 283.
[174] OLG Saarbrücken OLGR 2004, 9; OLG Saarbrücken VersR 2011, 1166; BGH VersR 2001, 89; BGH r+s 2013, 33.
[175] BGH VersR 2001, 89; OLG Saarbrücken zfs 2016, 283.
[176] OLG Saarbrücken VersR 2015, 226.
[177] BGH r+s 2013, 33.
[178] OLG Saarbrücken zfs 2016, 283.
[179] OLG Köln r+s 1987, 296; OLG Nürnberg NJW-RR 1992, 673.
[180] OLG Hamm VersR 1989, 177; BGH r+s 1991, 64; OLG Koblenz r+s 2000, 301; das gilt erst recht bei teilweiser Berufsunfähigkeit, vgl. OLG Karlsruhe VersR 1983, 288.

2. Kompensationsmöglichkeiten

 

Rz. 92

Es gilt zudem der allgemeine Grundsatz der gegenseitigen Rücksichtnahme aus Treu und Glauben (§ 242 BGB), gegen den der Versicherte ausnahmsweise durch das Unterlassen einer Therapiemaßnahme verstoßen kann, auch ohne vertraglich geregelte Obliegenheit. Im Rahmen der Zumutbarkeit muss sich der Versicherungsnehmer Kompensationsmöglichkeiten entgegenhalten lassen. Trifft aber ein Versicherter einfache, gefahrlose, nicht mit Schmerzen verbundene und sichere Aussicht auf Heilung oder wesentliche Besserung versprechende medizinische Maßnahmen nicht, ist er nach Treu und Glauben gehindert, den Versicherer auf die versprochenen Leistungen in Anspruch zu nehmen.[181]

Dies ist der Fall, wenn die versicherte Person sich in völlig ungewöhnlicher und unsachgemäßer Weise verhält und im Alltag selbstverständliche, keine gesundheitlichen Risiken bergende und auch sonst nicht unzumutbare Hilfen zur Beherrschung von physischen oder psychischen Beschwerden nicht ergreift oder sogar ohne solche Hilfen ihre beruflichen Behinderungen schlicht durch Willensanstrengung ausgleichen oder beseitigen könnte.[182]

Derartiges muss mithin eine Ausnahme bei bewusster "Therapieunwilligkeit" bleiben, da ansonsten ein nicht vorgesehenes allgemeines Zumutbarkeitskriterium eingeführt würde. Insofern können nur eindeutige Fälle, z.B. das Unterlassen des Tragens einer Brille, oder der Verwendung eines orthopädischen Sitzkissens[183] o.ä., gegen Treu und Glauben verstoßen. Keine Unzumutbarkeit liegt auch dann vor, wenn sich dem Leiden durch Medikamen...

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