1. Überblick

 

Rz. 173

Ein Vergleichsberuf, auf den durch den Versicherer verwiesen werden darf, liegt grundsätzlich dann vor, wenn die aufgezeigte Erwerbstätigkeit keine deutlich geringeren Kenntnisse und Fähigkeiten erfordert und auch in ihrer Vergütung wie in ihrer Wertschätzung nicht spürbar unter das Niveau des bislang ausgeübten Berufs absinkt.[360] Die Lebensstellung des Versicherten wird also von der Qualifikation seiner Erwerbstätigkeit bestimmt, die sich wiederum daran orientiert, welche Kenntnisse und Erfahrungen die ordnungsgemäße und sachgerechte Ausübung der Tätigkeit voraussetzt.[361] Allerdings darf die Tätigkeit den Versicherten auch nicht überfordern; er darf im Vergleichsberuf weder wesentlich über- noch unterqualifiziert sein.[362] Nicht erforderlich ist es, dass der Versicherte im Verweisungsberuf seine kompletten Kenntnisse und Fähigkeiten einbringen bzw. nutzen kann, da ansonsten eine Verweisung praktisch nicht möglich wäre.[363]

[360] OLG Saarbrücken VersR 2014, 1194.
[361] BGH VersR 1997, 436; BGH NJW-RR 2003, 383; BGH VersR 2010, 1023.
[362] BGH VersR 1993, 1472.
[363] So auch Neuhaus, H, V., Rn 141.

2. Begriff der Kenntnisse bzw. Ausbildung und Fähigkeiten

 

Rz. 174

Die am Markt befindlichen Bedingungswerke arbeiten mit unterschiedlichen Begrifflichkeiten, die jedoch im Grunde den gleichen Erklärungsgehalt haben. Einige Bedingungswerke sehen vor, dass der Verweisungsberuf den Kenntnissen und Fähigkeiten der versicherten Person entsprechen muss.[364] Der Begriff "Kenntnis" spricht das Wissen der versicherten Person an. Unter dem Begriff "Fähigkeiten" sind sowohl Begabungen wie auch solche Eigenschaften, die durch Lernprozesse erworben wurden, zu verstehen. Dies können z.B. organisatorische oder handwerkliche Fähigkeiten und auch körperliche oder geistige Stärken sein.

Der Versicherte muss sowohl erforderliche objektive, wie einen bestimmten Schul- oder Ausbildungsabschluss, ein Mindestalter etc., erfüllen,[365] als auch evtl. erforderliche subjektive Voraussetzungen für den Vergleichsberuf mitbringen. Dies können dokumentierte Befähigungen, wie etwa eine bestimme Berufserfahrung, aber auch sog. soft skills sein, etwa "Verkaufsbefähigung",[366] Führungsstärke, Nervenstärke etc.[367] Dies bedeutet nicht, dass derartige Eigenschaften nicht objektivierbar sein könnten. Gibt es z.B. Zeugnisse, in denen bestimmte derartige Beschreibungen enthalten sind, muss sich der Versicherte jedenfalls schlüssig dazu erklären, weshalb er die fragliche Eigenschaft gleichwohl nicht (mehr) besitzt.

 

Rz. 175

Andere Bedingungswerke stellen nicht auf Kenntnisse und Fähigkeiten, sondern auf Ausbildung und Fähigkeiten der versicherten Person ab.[368] Ein qualitativer Unterschied zwischen den Begriffspaaren "Kenntnisse und Fähigkeiten" und "Ausbildung und Fähigkeiten" besteht nicht.[369] Die Kenntnisse, die jemand hat, werden ihm häufig durch die Ausbildung vermittelt worden sein. Ebenso korrespondieren die Begriffe "Fähigkeiten" und "Erfahrungen" weitgehend, da viele Fähigkeiten auf Erfahrungen basieren.

[364] So etwa § 2 I Abs. 2 – Bedingungen für die BUZ – Basis-Schutz von Cosmos Direct – Stand 7/08.
[365] BGH VersR 2010, 123; OLG Celle NJW-RR 2005, 110.
[366] KG Berlin VersR 1995, 1473.
[367] Vgl. auch Rixecker in Beckmann/Matusche-Beckmann, § 46, Rn 112.
[368] So z.B. § 2 Abs. 1 der Besonderen Bedingungen für die BUZ-Versicherung VHV-BU-Klassik von 07/2008; so auch Bemerkung zu § 2 MB BUV 13.
[369] BGH VersR 1986, 1113.

3. Beurteilungsmaßstab

 

Rz. 176

Der Maßstab für die Beurteilung der Ausbildung und Erfahrung bzw. der Kenntnisse und Fähigkeiten ist ein objektiv-individueller. Es kommt nicht darauf an, ob die versicherte Person die Kenntnisse und Erfahrungen, die sie besitzt auch in ihrem letzten Beruf einsetzen musste; es kommt nur darauf an, dass sie überhaupt über diese verfügt – unbeachtlich, auf welchem Wege sie erworben wurden.[370]

 

Rz. 177

Wenn der Vergleichsberuf der Ausbildung der versicherten Person entsprechen soll, muss er ihr den Zugang zu dem Verweisungsberuf aber grundsätzlich eröffnen. Es kann deshalb niemand auf eine Tätigkeit verwiesen werden, die üblicherweise nur mit einer abgeschlossenen Berufsausbildung ausgeübt wird, die er nicht besitzt.[371] Es sind nur solche Defizite hinzunehmen, die nach Art und Umfang durch eine angemessene Einarbeitung – wie sie bei jeder neuen Stelle üblich ist – ausgeglichen werden könnten (hierzu im Folgenden).

 

Rz. 178

Die Verweisung durch den Versicherer erfolgt regelmäßig abstrakt, sofern die Bedingungen dies zulassen. Es ist deshalb grundsätzlich ohne Belang, ob die versicherte Person die Verweisungstätigkeit tatsächlich aufnimmt. Hat der Versicherte jedoch eine andere Tätigkeit aufgenommen, kann der Versicherer auch eine konkrete Verweisung aussprechen auf den neuen Beruf, den der Versicherte bereits ausübt. Unzulässig ist eine gemischt konkret-abstrakte Verweisung. Der Versicherer kann also den konkret ausgeübten Beruf des Versicherungsnehmers weder finanziell noch in den Arbeitsbedingungen verändern wollen, solange sich die versicherte Person einer ohne Weiteres mög...

Das ist nur ein Ausschnitt aus dem Produkt Deutsches Anwalt Office Premium. Sie wollen mehr?

Anmelden und Beitrag in meinem Produkt lesen


Meistgelesene beiträge