I. Allgemeines

 

Rz. 373

Die geläufige Bezeichnung "Anzeigepflicht" bzw. "Anzeigepflichtverletzung" ist irreführend, da es sich nicht um echte Rechtspflichten handelt, sondern der Sache nach um Obliegenheiten, die bei Nichtbefolgung negative Folgen für den Versicherten nach sich ziehen, jedoch nicht einklagbar sind.[795]

[795] Im Folgenden sollen die (üblichen) Bezeichnungen gleichwohl im Wesentlichen beibehalten werden.

1. Übergangsrecht

 

Rz. 374

Die Vorschriften über die vorvertraglichen Anzeigepflichtverletzung sind mit dem ab 1.1.2008 geltenden neuen VVG grundlegend verändert worden (siehe §§ 1922 VVG). Die Regelungen zur vorvertraglichen Anzeigepflicht und deren Folgen sind in § 6 der MB BUV 16 enthalten und geben inhaltlich den Gesetzestext wieder.

Während früher nach § 16 Abs. 1 VVG a.F.[796] über alle gefahrerheblichen Umstände ohne ausdrückliche Aufforderung Auskunft zu geben war, müssen jetzt nur noch diejenigen angezeigt werden, nach denen der Versicherer in Textform (§ 126b BGB) ausdrücklich fragt (§ 19 Abs. 1 S. 1 VVG). Nach altem Recht war die "ausdrückliche und schriftliche Frage" des Versicherers lediglich ein Indiz für die Gefahrerheblichkeit (vgl. § 16 Abs. 1 S. 3 VVG a.F.).[797]

 

Rz. 375

Die nach altem VVG bestehende Obliegenheit zur spontanen Anzeige gefahrerheblicher Umstände entfällt damit grundsätzlich unter der Geltung des neuen Rechts,[798] ist aber für Altverträge weiterhin bedeutsam.[799]

 

Hinweis

Das alte Recht hat durchaus noch Relevanz für aktuelle Versicherungsfälle, da bei Altverträgen, die vor 2008 abgeschlossen wurden, für die Frage, ob überhaupt eine Anzeigepflicht verletzt wurde, einzig die Vorschriften des alten VVG gelten und nur für die Beurteilung der Rechtsfolgen dieser Verletzung das neue VVG gilt (sog. Spaltungsmodell).[800]

Derartige Übergangsfälle werden in der Praxis noch häufig anzutreffen sein, was durch die zahlreiche aktuellere Rechtsprechung bestätigt wird.

 

Rz. 376

Nur in "krassen" Ausnahmefällen kann nach neuem VVG von einer spontanen Offenbarungsobliegenheit des Versicherungsnehmers nach Treu und Glauben und ohne Auskunftsverlangen des Versicherers auszugehen sein. Eine solche kann sich nur auf außergewöhnliche und besonders wesentliche Informationen beziehen, die das Aufklärungsinteresse des Versicherers so grundlegend berühren, dass sich dem Versicherungsnehmer ihre Mitteilungsbedürftigkeit auch ohne Auskunftsverlangen aufdrängen muss; d.h. bei Dingen, die für jedermann erkennbar das Aufklärungsinteresse des Versicherers in ganz elementarer Weise betreffen und deren Bedeutung daher für den Versicherungsnehmer auf der Hand liegen.[801] Der Versicherungsnehmer muss sich grundsätzlich darauf verlassen können, dass der Versicherer die aus seiner Sicht gefahrerheblichen Umstände erfragt. Er darf daher in der Regel den Fragenkatalog als abschließend ansehen und braucht keine weitergehenden Überlegungen dazu anzustellen, was den Versicherer darüber hinaus interessieren könnte. Eine spontane Anzeigepflicht besteht nur bei Umständen, die offensichtlich gefahrerheblich und so ungewöhnlich sind, dass eine auf sie abzielende Frage nicht erwartet werden kann.[802]

[796] § 16 VVG a.F. lautete: "Der Versicherungsnehmer hat bei der Schließung des Vertrags alle ihm bekannten Umstände, die für die Übernahme der Gefahr erheblich sind, dem Versicherer anzuzeigen. Erheblich sind die Gefahrumstände, die geeignet sind, auf den Entschluss des Versicherers, den Vertrag überhaupt oder zu dem vereinbarten Inhalt abzuschließen, einen Einfluss auszuüben. Ein Umstand, nach welchem der Versicherer ausdrücklich und schriftlich gefragt hat, gilt im Zweifel als erheblich."
[797] Vgl. BGH VersR 2000, 1486; BGH VersR 1994, 711.
[798] Langheid in: MüKo-VVG, § 19, Rn 54.
[799] Neuhaus, O, V., Rn 69 ff.
[800] BT-Drucks 16/3945, S. 118; OLG Frankfurt VersR 2012, 1107; LG Köln VersR 2012, 1108; OLG Brandenburg NJW-RR 2014, 1501; OLG Braunschweig VersR 2016, 579; OLG Hamm VersR 2016, 580; vgl. auch Neuhaus, O, V., Rn 74 ff.
[801] BGH VersR 2011, 1549; OLG Hamm VersR 2015, 1551.
[802] OLG Celle r+s 2016, 500: m.w.N. zum Meinungsstand.

2. Konkurrenzen

 

Rz. 377

Neben den Regelungen der §§ 1922 VVG und der Anfechtung wegen arglistiger Täuschung nach BGB ist kein Raum für Ansprüche des Versicherers gegen den Versicherungsnehmer aus Pflichtverletzung bei Vertragsschluss (§ 280 Abs. 1 und 3, § 282, § 241 Abs. 2, § 311 Abs. 2 BGB; früher culpa in contrahendo), wenn der Versicherungsnehmer bei Anbahnung des Versicherungsvertrages über einen gefahrerheblichen Umstand täuscht. Die Vorschriften des VVG regeln die Rechtsfolgen der Verletzung vorvertraglicher Anzeigeobliegenheiten abschließend;[803] dies war bereits unter der Geltung des alten VVG gefestigte Rechtsprechung.[804] Denkbar wäre allenfalls die Geltendmachung der Arglisteinrede gemäß § 853 BGB, sofern dem Versicherer Schadensersatzansprüche aus unerlaubten Handlungen des Versicherungsnehmers zustehen, die andere als die bereits über die §§ 19 ff. VVG/§§ 16 ff. VVG a.F. geschützten Interessen des Versicherers verletzt...

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