Rz. 65

In dieser Fallgruppe ist immer eine besondere Einzelfallprüfung geboten. Entscheidend ist, ob der Versicherungsnehmer vom verkehrsunsicheren Zustand der Reifen wusste oder hätte wissen müssen.[95] Abgefahrene Reifen können insbesondere auch im Zusammenspiel mit Aquaplaning ein grob fahrlässiges Fehlverhalten begründen.[96] Der Käufer eines gebrauchten, für den Straßenverkehr zugelassenen Fahrzeugs handelt jedoch nicht grob fahrlässig, wenn er es unterlässt, zu überprüfen, ob die Bereifung des Fahrzeugs für dieses zugelassen ist.[97] Ebenso genügt eine geringfügige Unterschreitung der gesetzlichen Mindestprofiltiefe i.d.R. nicht zur Annahme grober Fahrlässigkeit.[98] Ohne Vorliegen besonderer Umstände begründet allein das Unterlassen einer sorgfältigen, regelmäßigen Kontrolle der Reifen keine grobe Fahrlässigkeit.[99] Grob fahrlässig handelt jedoch, wer mit Sommerreifen in ein Wintersportgebiet fährt.[100]

 

Rz. 66

Liegt ein grob fahrlässiges Fehlverhalten – unter Umständen auch als Gefahrerhöhung i.S.d § 23 VVG – vor, dürfte häufig das Verschulden des Versicherungsnehmers eher im geringeren Bereich anzusiedeln sein. In der Rechtsprechung lässt sich indes derzeit eine Tendenz zur Vornahme einer höheren Leistungskürzung (50 %[101] bzw. 75 %[102]) erkennen. Letztendlich kommt es aber immer darauf an, wie lange das Fehlverhalten des Versicherungsnehmers bestanden hat, und ob bzw. wie gut er die fehlende Verkehrssicherheit kannte oder hätte erkennen können. Eine Kürzungsquote von 30–60 % dürfte den meisten Fällen gerecht werden können.[103]

 

Rz. 67

Muster 15.19: Einwände bei der Leistungskürzung bei verkehrsunsicherer Bereifung

 

Muster 15.19: Einwände bei der Leistungskürzung bei verkehrsunsicherer Bereifung

_________________________ Versicherung AG

_________________________

_________________________

Schaden-Nr./VS-Nr./Az. _________________________

Schaden vom _________________________

Pkw _________________________, amtl. Kennzeichen _________________________

Sehr geehrte Damen und Herren,

in vorbezeichneter Angelegenheit komme ich zurück auf Ihre Leistungsablehnung in Höhe von _________________________ %, die zu beanstanden ist.

1) Es ist kein grob fahrlässiges Fehlverhalten meiner Mandantschaft anzunehmen. Hier kann eine grobe Fahrlässigkeit nur bei Vorliegen besonderer Umstände angenommen werden (OLG Karlsruhe, Urt. v. 16.10.1997 – Az. 12 U 99/97 = zfs 1998, 427 = SP 1998, 251; OLG Köln, Urt. v. 25.4.2006 – Az. 9 U 175/05 = r+s 2006, 369; OLG Frankfurt, Urt. v. 27.10.2004 – Az. 7 U 50/04 = OLGR Frankfurt 2006, 146), die hier nicht gegeben sind. Dies insbesondere deshalb, weil _________________________.

2) Selbst wenn mein Mandant tatsächlich grob fahrlässig gehandelt haben sollte, steht Ihnen kein Kürzungsrecht in der begehrten Höhe zu. Im Einklang mit der Empfehlung des "Goslarer Orientierungsrahmens" (vgl. die Darstellung bei Nehm, zfs 2010, 12 ff. sowie bei Nugel, MDR 2010, 597 ff.) ist in diesem Fall eine Leistungskürzung allenfalls in Höhe von 25 % möglich.

Ich fordere Sie daher auf, Ihre Rechtsposition nochmals zu überdenken und den von meinem Mandanten verfolgten Kaskoschaden vollständig, zumindest aber in Höhe von _________________________ EUR auszugleichen. Hierfür habe ich mir vorsorglich eine Frist notiert bis zum

_________________________ (10-Tages-Frist).

Mit freundlichen Grüßen

(Rechtsanwalt)

[95] OLG Nürnberg, Urt. v. 27.6.1991 – Az. 8 U 87/91 = zfs 1992, 202; vgl. auch OLG Köln, Urt. v. 7.10.2003 – Az. 9 U 63/01 = NZV 2004, 260.
[96] OLG Hamm, Urt. v. 27.6.1984 – Az. 20 U 26/84 = VersR 1985, 678; LG Bielefeld, Urt. v. 15.5.2007 – Az. 6 O 22/06 = SP 2008, 158.
[97] OLG Karlsruhe, Urt. v. 16.10.1997 – Az. 12 U 99/97 = zfs 1998, 427 = SP 1998, 251.
[98] LG Verden, Urt. v. 14.11.1995 – Az. 5 O 391/94 = SP 1996, 148.
[101] LG Darmstadt, Beschl. v. 19.5.2011 – Az. 1 O 9/11 = VRR 2011, 464.
[102] LG Passau, Beschl. v. 19.7.2011 – Az. 1 O 329/11 = VRR 2013, 32.
[103] Nugel, Kürzungsquoten nach dem VVG, § 2 Rn 115.

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