I. Verstoß des deutschen Nichtehelichenerbrechts gegen die EMRK, Urteile des EGMR und des BGH

 

Rz. 33

Nach den für das Gebiet der alten Bundesrepublik geltenden Normen blieb nach der Reform des Jahres 1998 einzig der Ausschluss des Erbrechts für vor dem 1.7.1949 geborenen nichtehelicher Kinder als rechtlicher Unterschied zwischen ehelichen und nichtehelichen Kindern bestehen. Dieses führte zu mehreren Verfahren, die schlussendlich vom EGMR entschieden wurden und zu einer Gesetzesänderung führten.

 

Rz. 34

Der EGMR hat in einem besonders gelagerten Fall im Urt. v. 28.5.2009 (Brauer ./. Deutschland) einen Verstoß der deutschen Gesetzgebung und Rechtsprechung gegen Art. 14 EMRK (Diskriminierungsverbot) i.V.m. Art. 8 EMRK (Schutz der Familie) festgestellt.[40] Die Grundsätze dieses Urteils gelten im Kern weiter, sind allerdings zugunsten der vor dem 1.7.1949 geborenen nichtehelichen Kinder durch weitere Entscheidungen ergänzt worden.[41]

Durch die Entscheidung vom 28.5.2009 hatte der EGMR festgestellt, dass Deutschland gegen die EMRK verstoßen habe, indem es einem vor dem 1.9.1949 geborenen nichtehelichen Kind jedwede Ansprüche am Nachlass seines 1998 verstorbenen Vaters versagte.

[40] Europäischer Gerichtshof für Menschenrechte, Urt. v. 28.5.2009 – 3545/04, FamRZ 2009, 1293 = NJW-RR 2009, 1603 = ZEV 2009, 510.
[41] Insbes. EGMR v. 9.2.2017 Mitzinger ./. Deutschland, FamRZ 2017, 656 ff.; EGMR v. 23.3.2017, Wolter und Sarfert ./. Deutschland, ZEV 2017, 507 (= NJW 2017, 1805) und BGH v. 12.7.2017, ZEV 2017, 510 lesenswert dazu Leipold, ZEV 2017, 489.

II. Neues Recht für die vor dem 1.7.1949 geborenen nichtehelichen Kinder

1. Die Reaktion der Gesetzgebung auf das Urteil des EGMR vom 28.5.2009

 

Rz. 35

Mit dem Zweiten Gesetz zur erbrechtlichen Gleichstellung nichtehelicher Kinder, zur Änderung der Zivilprozessordnung und der Abgabenordnung vom 12.4.2011 (Zweites ErbRGleichG)[42] hat die Gesetzgebung auf das Urteil des EGMR vom 28.5.2009 reagiert. Das Reparaturgesetz, das mit Rückwirkung zum 29.5.2009 in Kraft trat, wurde den Vorstellungen des EGMR, wie sich aus seinen weiteren zwischenzeitlich ergangenen Entscheidungen ergibt, nicht gerecht.

Trotz des Verfassungsauftrags zur Gleichstellung nichtehelicher Kinder mit ehelichen Kindern durch die Gesetzgebung in Art. 6 Abs. 5 GG, der seit 23.5.1949, dem Inkrafttreten des Grundgesetzes, gegolten hat, wurde die Problematik erst 20 Jahre später mit dem Gesetz über die rechtliche Stellung der nichtehelichen Kinder (NEhelG) vom 18.9.1969,[43] in Kraft getreten am 1.7.1970, ernsthaft angegangen. Bis zu diesem Zeitpunkt hatte § 1589 Abs. 2 BGB a.F. mittels einer Fiktion die Verwandtschaft zwischen Vater und nichtehelichem Kind schlicht geleugnet ("Ein uneheliches Kind und dessen Vater gelten nicht als verwandt").[44] Schon die Weimarer Reichsverfassung sah in Art. 121 vor, dass Gesetze zur Verbesserung der Rechtsposition nichtehelicher Kinder erlassen werden sollten.[45] Es blieb jedoch bei Gesetzentwürfen. Die Wiedervereinigung von 1990 hat mit erneuter nahezu achtjähriger Verzögerung zum 1.4.1998 das volle gesetzliche Erb- und Pflichtteilsrecht nichtehelicher Kinder am Vater und den väterlichen Verwandten und umgekehrt das Erbrecht Letzterer am nichtehelichen Kind gebracht. Eine problematische Sonderregelung bestand jedoch seit dem 1.7.1970: Bereits das NEhelG von 1969 hat alle vor dem 1.7.1949 geborenen nichtehelichen Kinder vom Erbrecht am Vater ausgeschlossen; diese Sonderregelung – vom Bundesverfassungsgericht als verfassungsgemäß angesehen – blieb auch in der Folgezeit bestehen. Mit dem Urteil des EGMR vom 28.5.2009 kam noch einmal gehörig Bewegung in die unzureichend geregelte Materie.

[42] Verkündet am 15.4.2011 in BGBl I 2011, 615; die Änderungen der ZPO und der AO betreffen das Erbrecht nichtehelicher Kinder in keiner Weise.
[43] BGBl I 1969, 1243.
[44] Anhand von § 1589 Abs. 2 BGB haben Studienanfänger der Rechtswissenschaft gelernt, was eine Fiktion zu leisten vermag: Ein Gedankenkonstrukt, das Fakten negieren kann.
[45] Selbst der über 100 Jahre ältere Code Civil von 1804 hatte nichtehelichen Kindern ein gesetzliches Erbrecht am Vater zugestanden (Handwörterbuch zur Deutschen Rechtsgeschichte Bd. V S. 453).

2. Rechtsprechung bundesdeutscher Gerichte nach dem Urteil des EGMR v. 28.5.2009

 

Rz. 36

Da Entscheidungen des EGMR keine unmittelbar bindende Wirkung für bundesdeutsche Gerichte haben und das Urteil des EGMR nur inter partes wirkt, musste nunmehr in verschiedenen gerichtlichen Verfahren geklärt werden, auf welche Weise das Urteil des EGMR umzusetzen sei.[46]

Die Gerichte (OLG Stuttgart;[47] Kammergericht;[48] Hanseatisches OLG Hamburg;[49] OLG Köln;[50] LG Saarbrücken[51]) kamen in ihren Entscheidungen unisono zum Ergebnis, aus Gründen des Vertrauensschutzes habe sich an der bisherigen Rechtslage nichts geändert, die Zeitgrenze 1.7.1949 bleibe bestehen; außerdem seien deutsche Gerichte an die eindeutige Rechtsprechung des Bundesverfassungsgerichts gebunden.

Der BGH etwa hatte die unter dem Az IV ZR 150/10 gegen das Urteil des Hanseatischen OLG Hamburg eingelegte Revision mit Urt. v. 26.10.2011 zurückgewiesen.[52] Dagegen wurde Verfassungsbeschwerde eingelegt, die inzwischen mit Beschl. v. 18.3.2013 zurückgewiesen wurde.[53] Allerdings ist dieses zwischenzeitlich obsolet: Der BGH hat nunmeh...

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