1. "Goslarer Orientierungsrahmen"

 

Rz. 186

Aufgrund einer Empfehlung des Arbeitskreises II des 47. Deutschen Verkehrsgerichtstages (VGT) 2009 hat im November 2009 ein Symposium von Verkehrsrechtlern aus dem Kreise der Versicherungswirtschaft, der Vereine und Verbände stattgefunden. Aus diesem Symposium ist ein "unverbindlicher Orientierungsrahmen" hervorgegangen, der für typische, in der Praxis häufig vorkommende Fälle grob fahrlässiger Obliegenheitsverletzungen (§ 28 Abs. 2 S. 2 VVG) bzw. grob fahrlässiger Herbeiführung des Versicherungsfalles (§ 81 Abs. 2 VVG) sozusagen "Einstiegsquoten" in groben Kürzungsschritten von 25 % vorschlägt. Diese geben lediglich einen Rahmen vor, innerhalb dessen sodann entsprechend den konkreten Umständen des Einzelfalles die der konkreten Schuldschwere angemessene Kürzungsquote gefunden werden soll.

 

Rz. 187

Der "Goslarer Orientierungsrahmen" (Quotenbildung nach dem neuen Versicherungsvertragsgesetz) ist vollständig veröffentlicht in zfs 2010, 12 ff. In den nachfolgenden, vom "Goslarer Orientierungsrahmen" genannten typischen Fällen (siehe Rdn 189 ff.) wird jeweils auf die dort vorgesehene "Einstiegsquote" hingewiesen.

2. Bisherige Rechtsprechung

 

Rz. 188

Eine Übersicht bisher vorliegender Rechtsprechung zur Quotenbildung in typischen Fällen des Verkehrsrechts findet sich im entsprechenden Werk von Nugel (Kürzungsquoten nach dem VVG, 2. Auflage 2012). In den nachfolgend genannten Fällen wird jeweils auf ggf. bereits vorliegende Rechtsprechung hingewiesen.

3. Typische Fälle im Verkehrsrecht (nach dem "Goslarer Orientierungsrahmen")

a) Alkoholbedingte Fahruntüchtigkeit

 

Rz. 189

Der "Goslarer Orientierungsrahmen" schlägt eine Staffelung je nach Alkoholisierungsgrad vor:

Ab 0,3 bis 0,5 ‰ (bzw. entsprechender Atemalkoholwert): keine generelle Quote, sondern Frage des Einzelfalles
Ab 0,5 bis 1,1 ‰ (bzw. entsprechender Atemalkoholwert): Kürzung um 50 %
Ab 1,1 ‰: Kürzung um 100 %.
 

Rz. 190

Der BGH (v. 22.6.2011 – IV ZR 225/10 – VersR 2011, 1037) hat eine vollständige Leistungskürzung auf null des Vollkaskoversicherers in einem Fall absoluter Fahruntüchtigkeit (strafrechtliche Verurteilung wegen fahrlässigen Vollrauschs bei einer BAK von 2,7 ‰) akzeptiert. Er hat darauf hingewiesen, dass in Ausnahmefällen eine vollständige Leistungsversagung möglich sei, es hierzu allerdings der Abwägung der Umstände des Einzelfalles bedürfe (BGH a.a.O.; ebenso jüngst BGH v. 11.1.2012 – IV ZR 251/10 – VersR 2012, 341 bei einer BAK von 2,10 ‰). Auch das KG hält es mit der Intention des Gesetzes nicht für vereinbar, pauschal ab einer BAK von 1,1 ‰ die Leistung vollständig zu kürzen. Vielmehr seien alle objektiven und subjektiven Umstände des konkreten Einzelfalles zu berücksichtigen und zu gewichten (KG VersR 2011, 487).

 

Rz. 191

Verschiedene Instanzgerichte haben bereits eine Leistungskürzung auf null bei absoluter Fahruntüchtigkeit vorgenommen (OLG Dresden zfs 2010, 633 bei 2,7 ‰; OLG Stuttgart DAR 2011, 204 bei 1,29 ‰; LG Münster VersR 2011, 487 bei 1,67 ‰; LG Tübingen zfs 2010, 394 bei 1,29 ‰; AG Bitterfeld-Wolfen v. 19.8.2010 – 7 C 1001/09 – bei 1,18 ‰; AG Bühl SVR 2009, 424 bei 1,89 ‰; AG Berlin-Mitte zfs 2010, 576 bei 2,13 ‰). Demgegenüber hat das LG Bonn (DAR 2010, 24) bei einer Überlassung des Fahrzeugs an einen fahruntüchtigen Fahrer eine Leistungskürzung um 75 % vorgenommen.

Bei relativer Fahruntüchtigkeit haben das KG (NZV 2011, 495) eine Kürzung um 80 % bei einer BAK von 1,05 ‰, das OLG Saarbrücken (r+s 2015, 340) eine Leistungskürzung um 75 % bei einer BAK von 0,93 ‰, das LG Aachen (SP 2011, 375) ebenfalls eine Kürzung um 75 % bei einer BAK von 0,54 ‰, das OLG Hamm (zfs 2010, 634) eine Leistungskürzung um 60 % bei einer BAK von 0,59 ‰ und das LG Flensburg (zfs 2011, 700) eine Kürzung um 50 % bei einer BAK von 0,4 ‰ vorgenommen.

b) Drogenbedingte Fahrunsicherheit

 

Rz. 192

Der "Goslarer Orientierungsrahmen" hat "angesichts der Probleme der Strafjustiz, für die unterschiedlichen Drogen und Konsumformen jeweils einen der alkoholbedingten Fahrunsicherheit entsprechenden Grenzwert der absoluten Fahrunsicherheit verbindlich festzulegen", lediglich eine Bandbereite der Kürzung von 50 bis 100 % vorgeschlagen. Rechtsprechung liegt – soweit ersichtlich – noch nicht vor.

c) Überlassen des Fahrzeugs an Fahrer ohne Fahrerlaubnis

 

Rz. 193

Für diese Fälle hat der "Goslarer Orientierungsrahmen" im privaten Bereich eine Kürzung von 0 %, im gewerblichen Bereich eine Kürzung um 25 % vorgeschlagen. Auch in dieser Fallgruppe ist bisher keine Rechtsprechung ersichtlich.

d) Missachtung des Stopp-Schildes oder (festen) grünen (Abbiege-)Pfeils

 

Rz. 194

Für diese Fälle schlägt der "Goslarer Orientierungsrahmen" generell eine Kürzungsquote von 25 % vor. Rechtsprechung existiert noch nicht.

e) Rotlichtverstoß

 

Rz. 195

Bei Rotlichtverstößen erschien dem "Goslarer Orientierungsrahmen" eine generelle Kürzung um 50 % als angemessen.

 

Rz. 196

Die bisherige Rechtsprechung hat ebenfalls eine Kürzung um 50 % akzeptiert (LG Münster NJW 2010, 240; LG Essen zfs 2010, 393; AG Duisburg SP 2011, 28).

f) Anzeige-/Schadensminderungspflichtverletzung

 

Rz. 197

In dieser Fallgruppe ist auf die folgende Rechtsprechung mit jeweiliger Kürzung hinzuweisen:

20 %: mehrere Monate zurückliegenden Vorschaden mit 108 EUR statt 1.188 EUR falsch angegeben bei gestohlenem Pkw im Wert von 15.000 EUR, LG Nürnberg-Fürth VersR 2010, 1635
50 %: Auslandsunfall erst nac...

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