Rz. 48

Das Versicherungsrecht unterscheidet die gesetzlichen (d.h. im VVG geregelten) von den vertraglichen Obliegenheiten, welche in den jeweiligen AVB geregelt sind, bei denen lediglich die Rechtsfolgen gesetzlich in § 28 VVG bestimmt sind. Als gesetzliche Obliegenheiten des VVG sind insbesondere verschiedene Anzeigepflichten (Gefahrerhöhungen, Wohnungswechsel, Versicherungsfall gem. §§ 13, 23, 30 VVG), die Pflicht zur Vermeidung von Gefahrerhöhungen gem. § 23 Abs. 1 VVG, die Auskunftserteilung gem. § 31 VVG sowie die Schadenabwendungs- bzw. Schadensminderungspflicht gem. § 82 VVG zu nennen. Die Sanktionen der Verletzung einer gesetzlichen Obliegenheit sind in den jeweiligen Vorschriften des VVG geregelt.

I. Gefahrerhöhungen

 

Rz. 49

Die Vorschriften über die Gefahrerhöhung sollen das Gleichgewicht zwischen dem vom Versicherer übernommenen Risiko und der dafür zu zahlenden Prämie erhalten. Der Versicherer soll nicht gezwungen werden, am Vertrag festzuhalten, obwohl das Risiko nicht mehr dem bei Vertragsschluss vorausgesetzten und kalkulierten Risiko entspricht (BGH VersR 1979, 73; BGH VersR 1981, 245).

 

Rz. 50

Daher ist grundsätzlich für die Erheblichkeit einer Gefahrerhöhung entscheidend, ob der Versicherer bei Kenntnis den Abschluss des Vertrages abgelehnt oder von einer höheren Prämie abhängig gemacht hätte. Zu trennen sind folglich belanglose Gefahrsteigerungen – diese gelten gem. § 27 VVG als mitversicherte Risikoerhöhungen – von den erheblichen Gefahrerhöhungen.

1. Erforderlichkeit eines gewissen Dauerzustands

 

Rz. 51

Die Gefahrerhöhung setzt einen gewissen Dauerzustand voraus, sodass eine nur kurzfristige Gefahrsteigerung ausscheidet (BGH VersR 1957, 123; 1968, 1033; 1966, 559), z.B. die lediglich einmalige Trunkenheitsfahrt, einmalige Benutzung eines verkehrsunsicheren Fahrzeugs, das einmalige Überladen des Fahrzeugs. Das Zeitmoment schafft die Abgrenzung zur grob fahrlässigen Herbeiführung des Versicherungsfalls gem. § 81 Abs. 2 VVG, welche bei einer nur kurzfristigen Gefahrsteigerung in Betracht kommt.

 

Rz. 52

 

Hinweis

Der Anwalt des Versicherungsnehmers muss beim Vorwurf der Gefahrerhöhung sorgfältig prüfen, ob tatsächlich eine relevante Gefahrerhöhung i.S.d. § 26 VVG oder noch ein mitversichertes Risiko vorliegt, sei es wegen des konkreten Vertragsinhaltes oder wegen einer als mitversichert anzusehenden Risikoerhöhung.

2. Beispiele einer Gefahrerhöhung

 

Rz. 53

Im Bereich der Kraftfahrtversicherung beziehen sich die Gefahrerhöhungen meist auf die (Weiter-)Benutzung eines Kfz in länger andauerndem verkehrsunsicheren Zustand (BGH VersR 1990, 80), z.B. aufgrund

abgenutzter/abgefahrener Reifen (BGH VersR 1975, 1017; BGH VersR 1967, 746; OLG Saarbrücken zfs 2003, 127),
mangelhaften Zustands der Bremsanlage (BGH zfs 1986, 149),
erheblicher Umbauten am Fahrzeug, wie bei frisierten Mofas (BGH VersR 1970, 412; BGH VersR 1990, 80 = zfs 1990, 93),
defekter Achse (BGH VersR 1969, 216),
defekter Kupplung (BGH VersR 1963, 34),
defekter Lenkung (BGH VersR 1969, 216).
 

Rz. 54

Eine Gefahrerhöhung kann jedoch auch auf persönlichen Mängeln des Fahrers beruhen, wie z.B.

das wiederholte Fahren unter Alkoholeinfluss (OLG Frankfurt VersR 1960, 262),
das häufige Fahren ohne die erforderliche Sehhilfe (BGH VersR 1968, 654; BGH VersR 1969, 1011; OLG Karlsruhe VersR 1969, 175),
das Überlassen des Fahrzeugs an einen Epileptiker (OLG Hamm VersR 1985, 751; OLG Stuttgart zfs 1997, 257; OLG Nürnberg NVersZ 1999, 437) oder Diabetiker (OLG Oldenburg zfs 1985, 55).
 

Rz. 55

 

Beachte

Beim Führen eines Kfz mit abgefahrenen Reifen ist die Führung des Kausalitätsgegenbeweises bei trockener Fahrbahn möglich, weil abgefahrene Reifen auf trockener Fahrbahn eine gleichwertige Haftung der Reifen bewirken (BGH VersR 1978, 146).

Der Kausalitätsgegenbeweis ist auch möglich bei Aquaplaning (BGH VersR 1969, 987) und beim Nachweis, dass der Versicherungsnehmer vor dem Unfall überhaupt nicht gebremst hat (OLG Nürnberg VersR 1965, 175).

3. Subjektive Gefahrerhöhung

 

Rz. 56

§ 23 Abs. 1 VVG verbietet dem Versicherungsnehmer, nach Abgabe seiner Vertragserklärung ohne Einwilligung oder Wissen des Versicherers eine Erhöhung der Gefahr von erheblicher Dauer vorzunehmen oder deren Vornahme durch einen Dritten zu gestatten (sog. Gefahrstandspflicht).

 

Rz. 57

Die Vornahme oder Gestattung einer Gefahrerhöhung im Sinne des § 23 Abs. 1 VVG verlangt positives Wissen des Versicherungsnehmers hinsichtlich der die Gefahrerhöhung begründenden Umstände, ohne dass er jedoch die gefahrerhöhende Eigenschaft der vorgenommenen oder gestatteten Gefahrenänderung kennen muss (BGH VersR 1968, 1153). Grob fahrlässige Unkenntnis der die Gefahrerhöhung begründenden Umstände reicht hingegen nicht aus (BGH VersR 1982, 793).

 

Beachte

Der Versicherer muss die Kenntnis des Versicherungsnehmers von einer vorgenommenen oder herbeigeführten Gefahrerhöhung i.S.d. § 23 Abs. 1 VVG beweisen (BGH VersR 1982, 793).

 

Rz. 58

Ferner ist zu beachten, dass eine subjektive Gefahrerhöhung ein aktives Tun voraussetzt (BGH VersR 1981, 245; BGH VersR 1987, 653; BGH VersR 1987, 921), beim Unterlassen kommt lediglich eine objektive Gefah...

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