a) Grobe Abstufungen

 

Rz. 144

Weitestgehende Einigkeit herrscht darüber, dass die Quoten in groben, größeren Schritten gebildet werden sollen, da anderenfalls eine mathematische Genauigkeit suggeriert würde, die tatsächlich nicht zu erzielen ist. So wird überwiegend eine Aufteilung in Drittel, Viertel und Fünftelschritten vorgeschlagen (Langheid/Rixecker, VVG, 6. Auflage 2019, § 28 Rn 78; Rixecker, zfs 2007, 15, 16; Felsch, r+s 2007, 485 ff.; "Goslarer Orientierungsrahmen", zfs 2010, 12; a.A. 10-%-Schritte für § 81 Abs. 2 VVG: OLG Hamm r+s 2010, 506; LG Hannover VersR 2010, 112), die auch sachgerecht sein dürfte. Das bedeutet eine Mindestkürzung um 20 % und entspricht damit der Praxis der Haftungsquoten beim Verkehrsunfall, bei denen auch regelmäßig keine geringere Mithaftungsquote als 20 % berücksichtigt wird.

b) Kürzung auf Null bzw. Kürzung um Null?

 

Rz. 145

Ob der Begriff der Leistungskürzung auch die Möglichkeit einschließt, dass der Leistungsanspruch vollständig auf Null gekürzt wird, lässt sich sprachlich unterschiedlich bewerten.

 

Rz. 146

Von der Systematik des neuen VVG betrachtet spricht einiges dafür, dass eine Kürzung im Gegensatz zur vollen Leistung (bei einfacher Fahrlässigkeit) und zur vollständigen Leistungsfreiheit (bei Vorsatz) nicht zu einer 0 %- oder 100 %-Quote führen kann, da diese beiden Leistungsquoten den anderen Verschuldensformen vorbehalten sind. Nach der Gesetzessystematik ist bei grober Fahrlässigkeit eine Leistung vorgesehen, welche – ebenso wie das Verschulden – zwischen den beiden für die Verschuldensformen Vorsatz und einfache Fahrlässigkeit vorgesehenen Leistungen liegt.

 

Rz. 147

Dennoch wird allgemein davon ausgegangen, dass in besonderen Fällen auch 100:0-Fälle möglich sind, also eine Leistungskürzung zur vollständigen Leistungsfreiheit führen kann (Rixecker, zfs 2007, 15, 16; Felsch, r+s 2007, 485 ff.; Römer, VersR 2006, 740, 741; Stahl, in: Burmann/Heß/Stahl/Höke, S. 77 Rn 234 sowie die Empfehlung Nr. 4 des AK IV des 46. Deutschen Verkehrsgerichtstages 2008 und der "Goslarer Orientierungsrahmen", zfs 2010, 12). Diese Auffassung ist inzwischen vom BGH bestätigt worden (BGH v. 22.6.2011 – IV ZR 225/10 – VersR 2011, 1037 = NZV 2011, 597; BGH v. 11.1.2012 – IV ZR 251/10 – VersR 2012, 341). Soweit Felsch (r+s 2007, 485 ff.) allerdings argumentiert, eine Quote von 99:1 sei ja in jedem Fall möglich und es handele sich um eine bloße Förmelei, die Nullquote nicht zuzulassen, ist dem entgegenzuhalten, dass – auch nach der Ansicht von Felsch – lediglich grobe Schritte von maximal Fünfteln vorzunehmen sind. Zwischen der danach maximal denkbaren Quote von 80:20 und 100:0 besteht jedoch ein erheblicher Unterschied, der nicht lediglich einer Förmelei gleicht.

 

Rz. 148

Die Kürzung auf Null lässt sich allerdings allenfalls dann rechtfertigen, wenn umgekehrt auch in außergewöhnlich leichten Fällen der groben Fahrlässigkeit (was auch immer das sein mag) 0:100-Fälle möglich sind, es also bei der vollen Leistung bleibt (Römer, VersR 2006, 740, 741; Stahl, in: Burmann/Heß/Stahl/Höke, S. 77 Rn 234 sowie die Empfehlung Nr. 4 des AK IV des 46. Deutschen Verkehrsgerichtstages 2008).

c) "Grundquote" von 50 %?

 

Rz. 149

Die neue Gesetzessystematik verlangt, dass gegenüber dem bisherigen Recht nicht nur die Verschuldensformen des Vorsatzes, der groben sowie der einfachen Fahrlässigkeit voneinander abzugrenzen sind, was im Einzelfall bereits zu erheblichen Abgrenzungsschwierigkeiten geführt hat. Nunmehr ist innerhalb des Bereichs der groben Fahrlässigkeit weiter nach der "Schwere des Verschuldens" zu differenzieren, um die Quote der Leistungskürzung festzulegen.

 

Rz. 150

Künftig wird es daher innerhalb der groben Fahrlässigkeit ein Spektrum von der – nahe am Grenzbereich zur einfachen Fahrlässigkeit liegenden – "leichten" groben Fahrlässigkeit (mit geringer Leistungskürzung) bis hin zur – nahe am Grenzbereich zum bedingten Vorsatz liegenden – "schweren" groben Fahrlässigkeit (mit hoher Leistungskürzung) geben. Die damit zusammenhängenden Abgrenzungsschwierigkeiten liegen auf der Hand, war doch bereits die bisherige Dreiteilung im Einzelfall alles andere als einfach vorzunehmen.

 

Rz. 151

Felsch (r+s 2007, 485 ff.) geht mit dem Bild einer Waagschale davon aus, dass bei Vorliegen der Voraussetzungen der Leistungskürzung dem Grunde nach bei der Schwere des Verschuldens zunächst von einer "mittleren" groben Fahrlässigkeit und folglich einer "Grundquote" der Leistungskürzung von 50 % auszugehen sei. Versicherer und Versicherungsnehmer hätten sodann innerhalb des Bereichs der groben Fahrlässigkeit jeweils für sie günstige Umstände vorzutragen und ggf. zu beweisen, um die Quote in ihrem Sinne zu beeinflussen.

 

Rz. 152

Danach müsste der Versicherungsnehmer Tatsachen vortragen und ggf. beweisen, die für eine "leichtere" grobe Fahrlässigkeit – mit der Folge einer geringeren Leistungskürzung als 50 % – sprechen, der Versicherer hingegen Umstände, welche eine "schwerere grobe Fahrlässigkeit" – mit der Folge einer höheren Leistungskürzung als 50 % – begründen (HK-VVG-Felsch, § 28 Rn 169ff.; Langheid, NJW 2007, 3665; Gr...

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