Rz. 108

 

Zum Thema

Burmann/Heß/Jahnke/Janker-Jahnke, 23. Aufl. 2014, § 254 BGB Rn 205 ff.; von Pentz "Neuere Rechtsprechung des Bundesgerichtshofs zum Anscheinsbeweis im Verkehrsrecht" zfs 2012, 64 (Teil 1) und zfs 2012, 124 (Teil 2).

 

Rz. 109

Die dem Geschädigten obliegende Beweisführung wird im Einzelfall durch die von der Rechtsprechung geprägten Grundsätze des Anscheinsbeweises erleichtert.[129] Steht danach ein Sachverhalt fest, der nach der Lebenserfahrung auf eine bestimmte Ursache oder einen bestimmten Geschehensablauf hinweist, ist diese Ursache oder dieser Ablauf, wenn der Fall das Gepräge des Üblichen und Gewöhnlichen trägt, als bewiesen anzusehen.

 

Rz. 110

Der Anscheinsbeweis setzt nach allgemeinen Grundsätzen voraus, dass ein typischer Geschehensablauf feststeht,[130] also ein bestimmten Tatbestand, der nach der Lebenserfahrung auf eine bestimmte Ursache für den Eintritt eines bestimmten Erfolgs hinweist.[131] Ob der Sachverhalt in diesem Sinne im Einzelfall wirklich typisch ist, kann nur aufgrund einer umfassenden Betrachtung aller tatsächlichen Elemente des Gesamtgeschehens beurteilt werden, die sich aus dem unstreitigen Parteivortrag und den getroffenen Feststellungen ergeben.[132]

 

Rz. 111

Der Anscheinsbeweis bedeutet nicht, dass die beweisbelastete Partei ihre Darstellung nur wahrscheinlich zu machen braucht. Der streng nachgewiesene Teilsachverhalt und allgemeine oder besondere Erfahrungsgrundsätze müssen vielmehr zusammen die volle Überzeugung des erkennenden Gerichts von der Richtigkeit des behaupteten Geschehensablaufs begründen.[133]

 

Rz. 112

Bei der Anwendung des Anscheinsbeweises ist grundsätzlich Zurückhaltung geboten, weil er erlaubt, bei typischen Geschehensabläufen aufgrund allgemeiner Erfahrungssätze auf einen ursächlichen Zusammenhang oder ein schuldhaftes Verhalten zu schließen, ohne dass im konkreten Fall die Ursache bzw. das Verschulden festgestellt ist.[134] Ein Anscheinsbeweis kann nicht zum Tragen kommen, wenn zwei Gerichte zur Anwendung eines solchen Beweises verschiedener Meinung sind: Es fehlt dann an einem allgemeingültigen Satz.

 

Rz. 113

Der Anscheinsbeweis kehrt die Beweislast nach allgemeiner Meinung nicht um. Greift der Anscheinsbeweis, ist er nur dann entkräftet, wenn der Gegner Tatsachen vorträgt (und im Bestreitensfalle auch beweist), aus denen sich die ernsthafte Möglichkeit des anderen Geschehensablaufs ergibt.[135]

 

Rz. 114

Kann der Schaden auf mehrere typische Geschehensabläufe zurückzuführen sein, von denen nur einer zur Haftung des in Anspruch genommenen Schädigers führt, muss der Geschädigte diesen Ablauf beweisen, sofern auch die anderen Abläufe ernsthaft in Betracht kommen. Auch für einen hypothetischen Kausalverlauf bei rechtmäßigem Alternativverhalten ist der Schädiger beweispflichtig.[136] Erschüttert ist der Anscheinsbeweis, wenn unstreitig ist oder vom Inanspruchgenommenen bewiesen wird, dass ein schädigendes Ereignis durch zwei verschiedene Ursachen mit jeweils typischen Geschehensabläufen herbeigeführt worden sein und jede für sich allein den Schaden verursacht haben kann (siehe auch § 3 Rn 138).[137] Haftet der Inanspruchgenommene in einem solchen Fall nur für eine der möglichen Ursachen, sind die Regeln über den Anscheinsbeweis nicht anwendbar. Dabei kommt es noch nicht einmal darauf an, ob die eine oder andere Verursachungsmöglichkeit nach den Erfahrungen des täglichen Lebens die wahrscheinlichere ist.[138]

[129] Palandt-Grüneberg, Vorbemerkung § 249 Rn 130 m.w.N.
[130] BGH v. 30.11.2010 – VI ZR 15/10 – DAR 2011, 134 = JR 2012, 247 = jurisPR-VerkR 4/2011 Anm. 1 (Anm. Nugel) = MDR 2011, 157 = NJW 2011, 685 = NJW-Spezial 2011, 41 = NZV 2011, 177 = r+s 2011, 81 = SP 2011, 99 = VersR 2011, 234 = VRS 120, 284 = zfs 2011, 198.
[132] BGH v. 13.12.2011 – VI ZR 177/10 – BGHZ 192, 84 = DAR 2012, 137 = jurisPR-VerkR 3/2012 Anm. 1 (Anm. Wenker) = MDR 2012, 145 = NJW 2012, 608 = NJW-Spezial 2012, 41 = NZV 2012, 123 = r+s 2012, 96 = SP 2012, 99 = VersR 2012, 248 = VRS 122, 336 = zfs 2012, 195.
[133] OLG Köln v. 25.2.2005 – 6 U 139/04 – DAR 2005, 404 = MDR 2005, 1346 = NZV 2005, 523 = OLGR 2005, 334 = SVR 2006, 31 (nur Ls.) (Anm. Schwab) = VRS (2005) 109, 263.
[134] BGH v. 13.12.2011 – VI ZR 177/10 – BGHZ 192, 84 = DAR 2012, 137 = jurisPR-VerkR 3/2012 Anm. 1 (Anm. Wenker) = MDR 2012, 145 = NJW 2012, 608 = NJW-Spezial 2012, 41 = NZV 2012, 123 = r+s 2012, 96 = SP 2012, 99 = VersR 2012, 248 = VRS 122, 336 = zfs 2012, 195.
[135] BGH v. 26.3.2013 – VI ZR 109/12 – VersR 2013, 1000; BGH v. 16.3.2010 – VI ZR 64/09 – NJW-RR 2010, 1331 = VersR 2010, 627 (Rn 17); BGH v. 13.2.2007 – VI ZR 58/06 – BGHReport 2007, 884 = DAR 2007, 583 (nur Ls.) = MDR 2007, 884 = NJW-RR 2007, 1077 = NZV 2007, 294 = r+s 2007, 211 = ...

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