Mallory Völker, Monika Clausius
Rz. 100
§ 35a SGB VIII sieht in seinen kumulativ zu erfüllenden Tatbestandsvoraussetzungen eine Eingliederungshilfe vor, wenn die seelische Gesundheit eines Kindes oder Jugendlichen mit hoher Wahrscheinlichkeit länger als 6 Monate von dem für sein Lebensalter typischen Zustand abweicht und hieraus folgend die Teilhabe am Leben in der Gesellschaft entweder bereits beeinträchtigt oder die Beeinträchtigung zu erwarten ist.
Rz. 101
Der Begriff der seelischen Behinderung knüpft an § 2 Abs. 1 SGB IX an und orientiert sich an der Internationalen Klassifikation psychischer Störungen (Kapitel V der ICD-10), wobei für Kinder und Jugendliche ein multiaxiales Klassifikationsschema entwickelt wurde. Ob der für das jeweilige Lebensalter typische Entwicklungsstand besteht, beurteilt sich im Zusammenspiel verschiedener Normkategorien, d.h. sozialen, funktionellen, kulturellen und idealen statistischen Normen, und der Prüfung, ob die festzustellenden Abweichungen von diesem Normgefüge ein bestimmtes Ausmaß erreichen. Hierbei ist vor allem auf die aktuelle Lebenssituation des Minderjährigen abzustellen, verbunden mit der Prüfung, ob diese möglicherweise zum gegenwärtigen Zeitpunkt durch besondere einschneidende Umstände bestimmt wird. Darüber hinausgehend bedarf es aber auch der prognostischen Wertung, dass die festgestellte Abweichung mit hoher Wahrscheinlichkeit länger als 6 Monate dauern wird. Die Feststellung, ob eine seelische Behinderung in diesem Sinn vorliegt und auch länger als 6 Monate andauern wird, obliegt der Diagnose eines Angehörigen der in § 35a Abs. 1a Nr. 1 bis 3 genannten Berufszweige, d.h. insbesondere eines Arztes für Kinder- und Jugendpsychiatrie oder eines Kinder- und Jugendpsychotherapeuten. Um Interessenkollisionen zu vermeiden, darf jedoch der die Stellungnahme abgebende Arzt oder Psychotherapeut in keiner Form an der Leistungserbringung beteiligt sein. Der Auftrag für eine solche fachliche Stellungnahme muss nicht zwingend durch das Jugendamt erteilt werden, sondern kann auch von dem gesetzlichen Vertreter des Minderjährigen erteilt werden. Etwaige Vorschläge des Jugendamtes sind nicht bindend. Die Kosten der Stellungnahmen werden in diesem Fall von der Krankenversicherung des Minderjährigen getragen. Die Kosten einer vom Jugendamt geforderten ergänzenden Erläuterung der Stellungnahme trägt das Jugendamt jedoch selbst.
Rz. 102
Wird eine Abweichung der seelischen Gesundheit festgestellt, so bedarf es der zusätzlichen Prüfung, ob hieraus eine (drohende) Beeinträchtigung der Teilhabe am Leben folgt, d.h. mit hoher Wahrscheinlichkeit zu erwarten ist. Teilhabe in diesem Sinn bedeutet die aktive und selbstbestimmte Ausübung sozialer Funktionen und Rollen in den jeweiligen alterstypischen sozialen Gefügen. Diese muss nachhaltig beeinträchtigt sein. Auch Teilleistungsstörungen können ausreichend sein – etwa wenn sie allein den schulischen Bereich betreffen – soweit sie eine entsprechend starke Ausprägung besitzen. Hierbei ist jeweils eine Einzelfallbewertung vorzunehmen. Die diesbezüglichen Prüfungen obliegen dem Träger der öffentlichen Jugendhilfe, entsprechend dem nach § 20 SGB X geltenden Untersuchungsgrundsatz. Die Bewertung des Jugendamts, aus der sich ergeben muss, welche Lebensbereiche konkret von der Teilhabeberechtigung erfasst sind, unterliegt jedoch vollumfänglich der verwaltungsgerichtlichen Kontrolle.