Cordula Schah-Sedi, Michel Schah-Sedi
Rz. 53
Wichtigste Vorschrift für die Geltung des Familienprivilegs ist § 116 Abs. 6 SGB X bzw. § 86 Abs. 3 VVG. Danach ist ein Übergang der Ansprüche bei nicht vorsätzlichen Schädigungen durch Familienangehörige, die zum Zeitpunkt des Schadensereignisses mit dem Geschädigten oder seinen Hinterbliebenen in häuslicher Gemeinschaft leben, ausgeschlossen (§ 116 Abs. 6 SGB X).
Rz. 54
Der Begriff "Familienangehöriger" lässt sich aus der Gesetzessprache jedoch nicht einheitlich herleiten. Es besteht daher für jede Regelung mit Blick auf deren Sinn und Zweck unter Berücksichtigung des allgemeinen Sprachgebrauchs das Bedürfnis, diese zu ermitteln. (BGH zfs 2009, 393).
Sinn aller Vorschriften des Familienprivilegs ist es zu verhindern, dass der Schädiger auf dem Umweg über einen Rückgriff gegen den in häuslicher Gemeinschaft lebenden Geschädigten selbst wirtschaftlich in Mitleidenschaft gezogen wird (BGH a.a.O.). Im Interesse des häuslichen Familienfriedens soll verhindert werden, dass Streitigkeiten über die Verantwortung von Schadenszufügung gegen Familienangehörige innerhalb der Familie ausgetragen werden (BGH a.a.O.).
Nach früherer Auffassung war unstreitig, dass § 116 Abs. 6 SGB X ausschließlich tatsächlich für Familienangehörige, die in häuslicher Gemeinschaft leben, gilt. Bereits im Jahr 2010 hat das BVerfG entschieden, dass § 116 Abs. 6 SGB X nicht nur für solche Familienangehörige gilt, die in häuslicher Gemeinschaft leben. Vielmehr gilt § 116 Abs. 6 SGB X auch für solche Familienangehörige, die einen häufigen Umgang und einen regelmäßigen Aufenthalt bei ihren Familienangehörigen haben (BVerfG NJW 2011, 1793). Konkret bedeutet dies, dass beispielsweise auch geschiedene Elternteile, die ihre Kinder zum 14-tägigen Umgang abholen, geschützt sind durch das Familienprivileg des § 116 SGB X.
Rz. 55
Die Regelungen des Familienprivilegs führen dazu, dass ein Anspruchsübergang stattfindet; der Sozialversicherungs-/Sozialhilfeträger oder sonstige Dritte kann jedoch beim Schädiger keinen Rückgriff nehmen. Die Ansprüche, die nicht übergehen, verbleiben beim Geschädigten und können von diesem gegenüber dem Schädiger unmittelbar nach wie vor geltend gemacht werden.
Praxistipp
Das Schmerzensgeld sowie eigene verbleibende Ansprüche auf Erstattung des Haushaltsführungsschadens, soweit er eigene vermehrte Bedürfnisse betrifft, sind unbeschränkt weiter geltend zu machen.
Rz. 56
Nach dieser Entscheidung des BVerfG hat dann der Versicherungssenat des BGH in der bereits zitierten Entscheidung (zfs 2009, 393) festgelegt, dass § 67 Abs. 2 VVG a.F., dem § 86 Abs. 3 VVG in der neuen Fassung entspricht, nicht nur auf Familienangehörige, sondern auch auf nichteheliche Lebensgemeinschaften Anwendungen findet. In der Folge hat der Gesetzgeber dann § 86 Abs. 3 VVG so formuliert, dass er nicht nur den Familienangehörigen, sondern auch die in nichtehelicher Lebensgemeinschaft Lebenden erfasst.
Nach einhelliger Auffassung in Literatur und Rechtsprechung ist § 116 Abs. 6 SGB X in gleicher Weise auszulegen. Das bedeutet, dass neben den Personen, deren Ansprüche durch den Wortlaut des § 116 Abs. 6 SGB X geregelt sind, auch solche Familienangehörige privilegiert sind, die einen Bezug zum Geschädigten haben, aber auch solche Personen, die nicht Familienangehörige sind, jedoch in einer gefestigten häuslichen Gemeinschaft leben.
Der BGH hat in seiner Entscheidung vom 5.2.2013 die Anwendbarkeit von § 116 Abs. 6 S. 1 SGB VI auch auf nichteheliche Lebensgemeinschaften ausdrücklich angeordnet (BGH zfs 2013, 320).
Praxistipp
Eine nichteheliche Lebensgemeinschaft nimmt die Rechtsprechung dann an, wenn "Brot und Geld" geteilt werden. Wichtiges Indiz ist die gemeinsame Kasse und die gemeinsame Versorgung. Es ist bei nichtehelichen Lebensgemeinschaften immer unbedingt erforderlich, dass beide Parteien in häuslicher Gemeinschaft leben.
Rz. 57
Sobald das Familienprivileg einmal gilt, bleibt der Rückgriff des Drittleistungsträgers verwehrt. Daher gilt das Familienprivileg nicht nur in den Fällen, in denen bereits zum Unfallzeitpunkt die häusliche Gemeinschaft bzw. das Bezugsverhältnis bestand. Vielmehr gilt das Familienprivileg ab dem Zeitpunkt, in dem die entsprechende Konstellation entsteht. Beispiel: heiraten Schädiger und Geschädigte später, gilt das Familienprivileg ab diesem Zeitpunkt (vorher aber nicht). Auch dann, wenn Schädiger und Geschädigte geschieden werden, gilt das Familienprivileg weiter. Es endet nicht etwa durch eine Veränderung der Umstände. Ggf. müssen die Umstände im Einzelfall genau geprüft werden.
Rz. 58
Auch in den Fällen, in denen ein Familienprivileg anzuwenden ist, gilt gegenüber dem Schädiger bei einer Haftungsverteilung der Grundsatz der gestörten Gesamtschuld. Auf die Regulierung des Direktanspruchs hat dies keine Auswirkungen. Allerdings ist dann, wenn ein Anspruch zu regulieren ist, zu berücksichtigen, dass der Geschädigte bzw. dessen Rechtsnachfolger immer nur den Betrag erhalten kann, den er nach der höchsten Haftungsquote im Außenverhält...