Rz. 1

Mit den vorstehenden Erläuterungen zum sozialhilferechtlichen Leistungsverhältnis, seinem Entstehen, seinen Störfällen und seinen Störfallregelungen wurde ausgelotet, welche rechtlichen Spielräume für erbrechtlich Begünstigte, Beschenkte und Erblasser überhaupt verbleiben, was gar nicht funktioniert und was ggf. nur im Einzelfall sinnvoll und machbar ist. Daraus ergibt sich zwangsläufig das "Restrepertoire" geeigneter Gestaltungsmöglichkeiten durch Verfügung von Todes wegen. Der BGH hat entschieden, dass es einem Erblasser freistehe, alle im Erbrecht vom Gesetz bereitgestellten Gestaltungsinstrumente einschließlich ihrer Kombinationsmöglichkeiten auszuschöpfen.[1]

Das Ergebnis solcher erbrechtlicher Kombinationskunst ist das sog. Behindertentestament.

I. Zielgruppe

 

Rz. 2

Behindertentestamente sind keine Testamente von Menschen mit Behinderung. Man kann sie auch nicht pauschal als Testamente für Menschen mit Behinderung bezeichnen. Schon gar nicht sind sie – wie häufig suggeriert – Testamente für "Kinder"[2] mit Behinderung. Behindertentestamente sind nicht abhängig vom Alter eines Menschen und letztlich auch nicht von der rechtlichen Stellung eines Abkömmlings. Behindertentestamente sind auch nicht mit dem Begriff der Behinderung im Sinne von § 2 SGB IX verbunden.

 

Rz. 3

Ausgangspunkt aller Überlegungen zu einem Behindertentestament sind die sozialrechtlichen Leistungen, die ein Mensch mit Behinderung oder Mitglieder seiner Einsatzgemeinschaft als Erbe, Vermächtnisnehmer, Auflagenbegünstigter oder Pflichtteilsberechtigter beziehen oder mutmaßlich in Zukunft beziehen werden. Dabei geht es nicht um Sozialleistungen, die unabhängig von eigenem Einkommen und eigenem Vermögen erbracht werden. Behindertentestamente sind ausgerichtet auf Menschen mit Behinderung, die (behinderungsbedingt) Sozialleistungen erhalten, deren Bezug Bedürftigkeit voraussetzt. Vorrangig sind dies Sozialhilfeleistungen nach dem SGB XII und seit dem 1.1.2020 aus den vollkommen anders in ihrer Nachrangigkeit ausgestalteten §§ 90 ff. SGB IX.

 

Rz. 4

Ein Behindertentestament ist folglich eine Unterart eines Bedürftigentestaments, welches der Gesetzgeber mit § 2338 BGB nur rudimentär dahingehend geregelt hat, dass durch einen Akt der "Zwangsfürsorge" das Vermögen für den Pflichtteilsberechtigten und die Familie gegen Verschwendung und Überschuldung gesichert werden kann. Sozialhilfekonstellationen waren dem historischen Gesetzgeber des § 2338 BGB noch nicht bekannt, deshalb konnte er sie auch nicht gesetzlich regeln, wenngleich auch damals schon über den Wortlaut des § 2338 BGB hinaus "in einigen verwandten Fällen" eine entsprechende Anwendung für zulässig gehalten wurde.[3] Insofern ist die Diskussion über den Schutz des Nachlasses vor dem "Zugriff" Dritter nicht völlig neu. Eine entsprechende Anwendung auf Sozialhilfebezieher ist aber nie diskutiert worden. Erst in den 1970 er Jahren entwickelte die Praxis das Behindertentestament, um die Anrechnung von Zuflüssen aus Erbfällen als Vermögen bei Bezug von Sozialhilfe (damals Bundessozialhilfegesetzes (BSHG) – heute SGB XII) zu verhindern.

 

Rz. 5

Als Pendant des Behindertentestaments entwickelte sich in den Folgejahren das sog. Bedürftigentestament, das auf Menschen abzielt, die trotz grundsätzlicher Erwerbsfähigkeit wirtschaftlich bedürftig sind und subsidiäre Sozialleistungen beziehen. Vorrangig sind dies Leistungsempfänger nach dem SGB II.

 

Rz. 6

Behindertentestamente gibt es in unterschiedlichen Gestaltungsformen.[4] Der Klassiker ist die Erbschaftslösung.[5] Daneben existieren Behindertentestamente in der Form der Vermächtnislösung,[6] der umgekehrten Vermächtnislösung[7] und der Testamentsvollstreckungslösung.[8] Einzelne Formen können mit anderen verbunden sein. Statt eines Testamentes können entsprechende letztwillige Verfügungen auch im Rahmen eines Erbvertrages auftreten.

[2] Vgl. zur Rechtslage bei Kindern und Jugendlichen mit Behinderung: BT-Drucks 19/261/07 v. 25.1.2021, 42: 360.000 Kinder und Jugendliche haben eine seelische, geistige oder körperliche Behinderung. Bisher ist die Kinder- und Jugendhilfe nach dem SGB VIII nur für Leistungen der Eingliederungshilfe für rund 100.000 Kinder mit einer seelischen Behinderung zuständig. Ca. 260.000 Kinder mit einer geistigen oder körperlichen Behinderung sind dem Träger der Eingliederungshilfe nach dem SGB IX zugewiesen. Zukünftig soll der Vorrang des SGB VIII gelten.
[3] Planck, Bürgerliches Gesetzbuch, 5. Band,3. A. 1908, § 2338 BGB Rz. 7.
[4] Vgl. dazu z.B. Braun (Nachfolge Kornexl), Nachlassplanung bei Problemkindern, § 2 A.; Ruby/Schindler, Das Behindertentestament; Gockel, Notarformulare, Sonderfälle der Testamentsgestaltung, 2015, § 2, 63 ff.; Baltzer/Pauli, Vorsorgen mit Sorgenkindern, 165 ff. und die nachfolgend zitierte Literatur.
[5] Vgl. auch Langenfeld/Fröhler, Testamentsgestaltung, 6. Kap. Rn 86 ff.; Krauß, Vermögensnachfolge in der Praxis, Rn 6505 ff.
[6] Vgl. auch Langenfeld/Fröh...

Das ist nur ein Ausschnitt aus dem Produkt Deutsches Anwalt Office Premium. Sie wollen mehr?

Anmelden und Beitrag in meinem Produkt lesen


Meistgelesene beiträge