Rz. 8

Die ersten Entscheidungen zum Behindertentestament basieren auf letztwilligen Verfügungen zugunsten von "Kindern" mit Behinderung im Sinne von in der Regel volljährigen Abkömmlingen, nicht zugunsten von sonstigen Verwandten oder Nichtverwandten mit Behinderung.

Das Behindertentestament zugunsten von "Kindern" mit Behinderung in der Ursprungsversion der Erbschaftslösung besteht aus einer Schutz-Trias folgender erbrechtlicher Gestaltungselemente:

Erbfolgeregelung[12] mit der Besonderheit der (nicht befreiten) Vorerbschaft /Nacherbschaft und einer quotalen Beteiligung oberhalb des Pflichtteils
Dauertestamentsvollstreckung (§ 2209 BGB) für den Teil, der auf den bedürftigen Begünstigten entfällt
Verwaltungsanordnungen (§ 2216 Abs. 2 BGB) des Erblassers über die sozialhilfeunschädliche Zuwendung von Nachlassmitteln an den Bedürftigen aus dem unter Dauertestamentsvollstreckung stehenden Nachlass.
 

Rz. 9

Diese komplexe Verbindung erbrechtlichen Gestaltungsmaterials hat der BGH in seiner Ursprungsentscheidung unbeanstandet gelassen, weil eine letztwillige Verfügung nicht schon deshalb sittenwidrig sei, weil sie die Angehörigen des Erblassers von der gesetzlichen Erbfolge ausschließe. Es gelte der verfassungsrechtlich geschützte Grundsatz der Testierfreiheit.[13] In einem weiteren Prüfungsschritt hat der BGH diese Konstruktion mit einer Sittenwidrigkeitsprüfung nach § 138 BGB[14] "standfest" gemacht:

Zitat

"Dabei ist von dem Gedanken auszugehen, dass die behinderte Tochter durch den Erbvertrag über die Sozialhilfe hinaus auf Lebenszeit nicht unerhebliche zusätzliche Vorteile und Annehmlichkeiten erhält, die bei einem Absinken des heute erreichten Standes der Sozialleistungen für Behinderte noch wichtiger werden könnten. Der Senat hat bereits in seinem Urteil BGHZ 111, 36 (42) = NJW 1990, 2055, 1 darauf hingewiesen, dass Eltern auf diese Weise gerade der zuvörderst ihnen zukommenden sittlichen Verantwortung für das Wohl ihres Kindes Rechnung tragen und nicht verpflichtet sind, diese Verantwortung dem Interesse der öffentlichen Hand an einer Teildeckung ihrer Kosten hintanzusetzen."[15]

 

Rz. 10

Die erbrechtliche Literatur folgt dieser Rechtsprechung und sieht den behinderten Sozialhilfebezieher zusammen mit dem erbrechtlich versiert gestaltenden Erblasser erfolgreich auf der "Testamentsallee" wandeln, auf der "Verzichtsavenue" promenieren und dem "Ausschlagungsboulevard" flanieren[16] mit Aussicht auf "Erweiterung dieses Straßennetzes um weitere Prachtstraßen"[17] wie die "Pflichtteilssanktionsklauselgasse", falls der BGH seine Rechtsprechung zur generellen Überleitbarkeit von Pflichtteilsansprüchen noch einmal korrigiert.[18]

 

Rz. 11

Die sozialhilferechtliche Literatur und einzelne andere Stimmen aus der Literatur[19] charakterisieren die rechtliche Herleitung des Behindertentestamentes dagegen als "kunstvolle rechtliche Konstruktion, die nur dazu dient, einen Zugriff des Sozialhilfeträgers auf den Nachlass abzuwehren"[20] und deshalb "sehr bedenklich mit wenig überzeugenden Argumenten" sei[21]

In Bezug auf die sozialhilferechtliche Selbsthilfeverpflichtung ist diese Kritik nicht völlig unberechtigt. Die vom BGH herangezogene Sittenwidrigkeits- und Nachrangprüfung trägt nämlich – entgegen anderer Ansicht in der Literatur[22] – nach diesseitiger Ansicht nicht, jedenfalls aber seit längerer Zeit schon nicht mehr. Die Sittenwidrigkeitsprüfung kann heute – über 30 Jahre nach der Grundlagenentscheidung des BGH – im Angesicht eines kontinuierlichen Ausbaus von Rechten von Menschen mit Behinderung und kontinuierlicher sozialrechtlicher Leistungsverbesserungen nicht mehr überzeugen.

 

Rz. 12

Rechtsentwicklung:

1994 wurde die verfassungsrechtliche Basis der Rechtsstellung behinderter Menschen in Art. 3 Abs. 3 S. 2 GG gelegt: "Niemand darf wegen seiner Behinderung benachteiligt werden." Dadurch wurde die schon im Sozialstaatsprinzip enthaltene Pflicht des Staates, für die Förderung und Integration von Behinderten zu sorgen, nachhaltig verstärkt.[23]
2008 VN-Behindertenrechtskonvention (VN-BRK): "Sie enthält die rechtlichen Anforderungen an eine inklusive Gesellschaft und damit auch an ein inklusives Sozialleistungssystem. Die VN-BRK verlangt, alle staatlichen Maßnahmen an einer Inklusionsperspektive auszurichten, die keine Aussonderung akzeptiert."[24]
2020 Bundesteilhabegesetz (SGB IX)
2021 Gesetz zur Stärkung von Kindern und Jugendlichen (Kinder- und Jugendstärkungsgesetz – KJSG)[25]

Die Argumentation des BGH nimmt diese Rechtsentwicklung nicht zur Kenntnis und basiert auf der These einer real existierenden Gefahr einer Verschlechterung der Sozialleistungen zu Lasten von Kindern mit Behinderung, der vorgebeugt werden müsse.[26] Grundsätzlich sei deshalb ein solches Testament nicht sittenwidrig, "sondern vielmehr Ausdruck der sittlich anzuerkennenden Sorge für das Wohl des Kindes über den Tod der Eltern hinaus."[27]

 

Rz. 13

1976, als das Behindertentestament geschaffen wurde, steckte die Eingliederungshilfe (heute §§ 90 ff...

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