Rz. 206

Durch das Gesetz zur Änderung des Erb- und Verjährungsrechts vom 24.9.2009[399] wurde das bislang für die Ausschlussfrist nach § 2325 Abs. 3 BGB geltende "Alles-oder-Nichts-Prinzip" durch eine flexiblere Abschmelzungsregelung ersetzt.

 

Rz. 207

Demnach werden für die Bemessung des Pflichtteilsergänzungsanspruchs Schenkungen umso weniger berücksichtigt, je länger diese zurückliegen: Eine Schenkung im ersten Jahr vor dem Erbfall wird demnach voll in Ansatz gebracht, im zweiten Jahr nur noch zu 9/10, im dritten Jahr zu 8/10 usw. Dadurch soll die Ausschlussfrist für Pflichtteilsergänzungsansprüche flexibler gestaltet und sowohl dem Erben als auch dem Beschenkten mehr Planungssicherheit eingeräumt werden.[400] Dementsprechend wird die Neuregelung allgemein begrüßt.[401]

 

Rz. 208

Die Neuregelung gilt nicht nur für Schenkungen, die nach dem Inkrafttreten des Reformgesetzes am 1.1.2010 vorgenommen werden, sondern für alle Erbfälle, die ab diesem Zeitpunkt eintreten, mag die Schenkung auch bereits zuvor erfolgt sein (Art. 229 § 23 Abs. 4 EGBGB). G. Müller verdeutlicht die Auswirkungen der Neuregelungen an einigen Beispielsfällen:[402]

 

Rz. 209

 

Beispiele

Grundfall: Der Erblasser stirbt am 1.1.2010 ohne nennenswerten Nachlass. Sein Grundstück im Wert von 500.000 EUR hat er zu Lebzeiten seiner Tochter T geschenkt, die er auch zur Alleinerbin einsetzte. Der Sohn S macht wegen der lebzeitigen Schenkung an seine Schwester Pflichtteilsergänzungsansprüche geltend.

Variante 1: Die Schenkung erfolgte kurz vor dem Ableben des Erblassers.

Lösung: Sohn S kann hinsichtlich der vollen 500.000 EUR Pflichtteilsergänzung verlangen. Da kein aktiver sonstiger Nachlass vorhanden ist, erhält S folglich 125.000 EUR (= ¼ von 500.000 EUR) von T.

Variante 2: Die Schenkung erfolgte im Dezember 2006, also über drei Jahre vor dem Ableben des Erblassers.

Lösung: Sohn S kann 350.000 EUR Pflichtteilsergänzung verlangen (3/10 des Wertes der Schenkung sind abzuziehen; diese sind gegenüber der bisherigen Rechtslage ergänzungsfest).

Variante 3: Die Schenkung erfolgte im Januar 2001.

Lösung: Sohn S kann immerhin noch 50.000 EUR Pflichtteilsergänzung verlangen (d.h. 9/10 sind abzuziehen; nach der bisherigen Regelung hätte er Pflichtteilsergänzung hinsichtlich 500.000 EUR verlangen können; im Ergebnis sind damit 450.000 EUR pflichtteilsergänzungsfest verschenkt worden).

Variante 4: Die Schenkung erfolgte am 31.12.1999.

Lösung: Sohn S kann hinsichtlich der lebzeitigen Schenkung des Erblassers keine Pflichtteilsergänzungsansprüche mehr geltend machen, da zehn Jahre seit Leistung des Schenkungsgegenstandes (Ablauf am 31.12.2009) vergangen sind. (Hier keine Änderung zur bisherigen Rechtslage.)

 

Rz. 210

Ganz überwiegend wird allerdings vertreten, dass die Abschmelzungsregelung des § 2325 Abs. 3 S. 1 und 2 BGB dann nicht eingreift, wenn schon keine Leistung i.S.v. Abs. 3 S. 1 vorliegt.[403] Aufgrund der Rechtsprechung, dass die Ausschlussfrist erst beginnt, wenn der Erblasser nicht nur seine Rechtsstellung als Eigentümer aufgegeben hat, sondern auch darauf verzichtet, das Schenkungsobjekt im Wesentlichen weiterzunutzen (siehe Rdn 187 ff.), tritt bei einer Zuwendung gegen Nießbrauchsvorbehalt die allgemein begrüßte Abschmelzung des Pflichtteilsergänzungsanspruchs nicht ein;[404] Gleiches gilt bei einem umfangreichen Wohnungsrecht (siehe Rdn 198 ff.).

 

Rz. 211

Zum Teil wird bezweifelt, dass das Eingreifen der "Abschmelzungsregelung" – wie der bisherige Beginn der Ausschlussfrist – davon abhängig sei, dass der Schenker die "Leistung des verschenkten Gegenstandes" i.S.d. Rechtsprechung bereits erbracht habe.[405] Hintergrund ist, dass der Wortlaut des § 2325 Abs. 3 S. 1 BGB auf die seit dem "Erbfall" vergangene Zeit abstellt und erst in Abs. 3 S. 2 bestimmt wird, dass die Schenkung insgesamt unberücksichtigt bleibt, wenn "seit der Leistung" zehn Jahre vergangen sind. Dagegen geht die ganz h.M.[406] davon aus, dass nach wie vor die Leistung eingetreten sein muss, damit die – nunmehr im Sinne der Abschmelzungsregelung – modifizierte Ausschlussfrist zu laufen beginnt. Sie argumentiert damit, dass

die Pro-Rata-Regelung im Satz 1 des Absatzes 3 nur im Zusammenhang mit Satz 2 zu lesen sei, in dem auf die Leistung des Schenkungsgegenstandes abgestellt werde;
nach der amtlichen Gesetzesbegründung ein tragender Gedanke für den Ausschluss des Pflichtteilsergänzungsanspruchs sei, dass je länger die Schenkung zurückliege, desto weniger von einer möglicherweise unlauteren Benachteiligungsabsicht des Erblassers auszugehen sei;[407]
es sich nach der amtlichen Begründung bei der Neuregelung ausdrücklich um eine Modifizierung der Ausschlussfrist handele,[408] nicht aber um die Regelung der Voraussetzungen, unter denen die Frist anläuft.
 

Rz. 212

Damit besitzt die einschränkende Rechtsprechung des BGH zur notwendigen wirtschaftlichen Ausgliederung des Geschenks weiterhin Bedeutung. Allerdings hat es der Gesetzgeber trotz diesbezüglicher Hinweise im Gesetzgebungsverfahren[409] versäumt, du...

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