Rz. 31

BGH, Urt. v. 1.12.2009 – VI ZR 221/08, zfs 2010, 315 = VersR 2010, 642

Zitat

StVG a.F. § 17 Abs. 1; SGB X § 116

a) Zur Abwägung der beiderseitigen Verursachungs- und Verantwortungsbeiträge nach § 17 Abs. 1 StVG (a.F.) bei einem (tödlichen) Zusammenstoß eines Motorradfahrers mit einem auf dem linken von drei Fahrstreifen einer Autobahn liegen gebliebenen Kraftfahrzeug.
[b) Zur Berechtigung von Hinterbliebenen, Schadensersatzansprüche wegen entgangenen Unterhalts geltend zu machen, wenn sie sowohl eine gesetzliche Hinterbliebenenrente als auch eine betriebliche Zusatzversorgung erhalten.]

a) Der Fall

 

Rz. 32

Die Kläger nahmen die Beklagten wegen eines Verkehrsunfalls in Anspruch, der sich am 30.5.2002 auf der BAB 10 von B in Fahrtrichtung F ereignete und bei dem der Ehemann der Klägerin zu 1 (im Folgenden: Klägerin) und Vater der Kläger zu 2 und 3 tödlich verunglückte.

 

Rz. 33

Der Ehemann der Klägerin befuhr am Unfalltag gegen elf Uhr vormittags mit dem Motorrad in einer Gruppe zusammen mit zwei weiteren Motorradfahrern die Autobahn. Auf Höhe des Kilometers 84,6 kollidierten der Ehemann der Klägerin und ein weiterer Motorradfahrer mit dem auf dem linken von drei Fahrstreifen infolge eines Defekts liegen gebliebenen, bei der Beklagten zu 2 haftpflichtversicherten Lkw Barkas B 1000, dessen Halter und Fahrer der Beklagte zu 1 (im Folgenden: Beklagter) war. Dabei wurde der Ehemann der Klägerin tödlich verletzt.

 

Rz. 34

Die Kläger begehrten in ungeteilter Erbengemeinschaft nach dem Verstorbenen Schadensersatz. Das Landgericht hat die Klage abgewiesen. Das Berufungsgericht hat ihr unter Zugrundelegung einer Haftungsquote von 60 % teilweise stattgegeben. Mit der vom Berufungsgericht zugelassenen Revision verfolgten die Beklagten ihren Antrag auf Abweisung der Klage weiter. Die Kläger erstrebten mit der Anschlussrevision eine weitergehende Verurteilung der Beklagten über die vom Berufungsgericht zuerkannte Haftungsquote hinaus.

b) Die rechtliche Beurteilung

 

Rz. 35

Revision und Anschlussrevision hatten Erfolg.

Die Revision der Beklagten war begründet.

Sie beanstandete mit Erfolg die Ausführungen des Berufungsgerichts zur Abwägung der beiderseitigen Verursachungs- und Verantwortungsbeiträge nach § 17 Abs. 1 StVG in der bis zum Inkrafttreten des Zweiten Gesetzes zur Änderung schadensersatzrechtlicher Vorschriften vom 19.7.2002 (BGBl I, S. 2674 ff.) geltenden Fassung (im Folgenden: a.F.). Die Abwägung ist aufgrund aller festgestellten, d.h. unstreitigen, zugestandenen oder nach § 286 ZPO bewiesenen Umstände des Einzelfalls vorzunehmen, wenn sie sich auf den Unfall ausgewirkt haben; in erster Linie ist hierbei das Maß der Verursachung von Belang, in dem die Beteiligten zur Schadensentstehung beigetragen haben; das beiderseitige Verschulden ist nur ein Faktor der Abwägung. Die Entscheidung über die Haftungsverteilung ist zwar grundsätzlich Sache des Tatrichters und im Revisionsverfahren nur darauf zu überprüfen, ob alle in Betracht kommenden Umstände vollständig und richtig berücksichtigt und der Abwägung rechtlich zulässige Kriterien zugrunde gelegt worden sind, insbesondere nicht gegen Denkgesetze und Erfahrungssätze verstoßen wurde. Einer Überprüfung nach diesen Grundsätzen hielt das Berufungsurteil aber nicht in jeder Hinsicht stand.

 

Rz. 36

Ohne Erfolg wandte sich die Revision allerdings dagegen, dass das Berufungsgericht einen zulasten des Beklagten zu wägenden Umstand darin gesehen hatte, dass er sein Fahrzeug auf dem linken der drei Fahrstreifen zum Stehen brachte, anstatt es auf den Grünstreifen zur Mittelleitplanke hin ausrollen zu lassen. Zutreffend ging das Berufungsgericht davon aus, es müsse, wer mit seinem Fahrzeug auf der Überholspur einer Autobahn liegen bleibe, möglichst auf den zwischen den Fahrbahnen an der Mittelleitplanke liegenden Grünstreifen ausweichen. Keinen rechtlichen Bedenken begegnete auch die Auffassung des Berufungsgerichts, der Beklagte habe zumindest bis auf etwa einen halben Meter Aussteigeabstand an die Mittelschutzplanke heranfahren müssen, weil dann die Überholspur noch nahezu vollständig geräumt gewesen wäre. Denn der Beklagte hatte in dieser äußerst gefahrenträchtigen Situation die Maßnahmen zu treffen, die den Verkehr auf der Autobahn am wenigsten gefährdeten, hier also das Fahrzeug so weit wie irgend möglich aus dem Bereich des Fahrverkehrs herauszunehmen und zur Mittelleitplanke hin zu lenken, auch wenn es dann noch etwa 30 bis 40 cm in den linken Fahrstreifen hineingeragt hätte. Die Auffassung der Revision, es sei in solchen Situationen ungefährlicher, das Fahrzeug mitten auf der Überholspur zum Stehen zu bringen, weil nur dann der nachfolgende Verkehr ausreichend gewarnt werde, traf nicht zu. Denn nur das Räumen der Fahrbahn ist geeignet, das Hindernis als solches zu beseitigen und Verkehrsteilnehmer zu schützen, die es nicht rechtzeitig wahrnehmen. Dass der Unfall vermieden worden wäre, wenn sich das Fahrzeug des Beklagten nur etwa 30 bis 40 cm auf dem linken Fahrstreifen befunden hätte, stellte die Revision selbst nicht in...

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