Rz. 361

Die Behörden (Gerichte oder Verwaltungsbehörden) des Staates, in dem ein Minderjähriger (persönlicher Anwendungsbereich) seinen gewöhnlichen Aufenthalt[491] (in einem Vertragsstaat zum Zeitpunkt des Erlasses der Schutzmaßnahme – territorialer Anwendungsbereich) hat, sind nach Art. 1 MSA (internationale Zuständigkeit) grundsätzlich (vorbehaltlich der Bestimmungen der Art. 3, 4 und 5 Abs. 3 MSA) zuständig, Maßnahmen zum Schutz der Person und des Vermögens (sachlicher Anwendungsbereich) des Minderjährigen zu treffen.

 

Rz. 362

Unter "Schutzmaßnahmen" – als autonom zu qualifizierende Begrifflichkeit[492] – fallen in weiter Auslegung behördliche wie gerichtliche Einzelakte zum Schutz eines bestimmten Minderjährigen, unabhängig davon, ob es sich um privatrechtliche oder öffentlich-rechtliche Maßnahmen handelt (insbesondere Fragen des Rechtsverhältnisses zwischen Eltern und Kindern).[493] Erfasst wird also der gesamte Schutz des Minderjährigen, neben der Vormundschaft (vgl. dazu Art. 18 MSA; siehe Rdn 389) auch die elterliche Sorge und der öffentlich-rechtliche Minderjährigenschutz.[494] Minderjähriger ist gem. Art. 12 MSA, wer sowohl nach seinem Heimatrecht als auch nach dem Recht seines gewöhnlichen Aufenthalts "minderjährig" ist mit der Folge, dass wer nach einem der beiden Rechte volljährig ist, dem MSA nicht mehr unterfällt. Seinem Anwendungsbereich nach erfasst das MSA nach Art. 13 Abs. 1 alle Minderjährigen, "die ihren gewöhnlichen Aufenthalt in den Vertragsstaaten haben" – gewöhnlicher Aufenthalt verstanden (wie im deutschen Recht) als Daseinsmittelpunkt.[495]

 

Rz. 363

Die Zuständigkeiten, die nach dem MSA den Behörden eines Staates zukommen, dem der Minderjährige angehört, bleiben nach Art. 13 Abs. 2 MSA jedoch den Vertragsstaaten vorbehalten, d.h., auch wenn das MSA die Behörde des Heimatstaates für zuständig erklärt, wirkt es nur zugunsten von Vertragsstaaten.

 

Rz. 364

Nach Art. 13 Abs. 3 MSA kann sich jeder Vertragsstaat auch vorbehalten, die Anwendung des Übereinkommens auf Minderjährige zu beschränken, die einem der Vertragsstaaten angehören. Den Vorbehalt nach Art. 13 Abs. 3 MSA haben Luxemburg, die Niederlande, Österreich und Spanien, nicht jedoch die Bundesrepublik Deutschland erklärt. Die Niederlande haben ihren Vorbehalt mit Wirkung vom 30.3.1982[496] wieder zurückgenommen, Österreich mit Wirkung vom 7.8.1990[497] und Spanien mit Wirkung vom 19.8.1995.[498]

 

Rz. 365

Das MSA trifft eine Differenzierung zwischen

gesetzlichen Gewaltverhältnissen (d.h. der elterlichen Sorge und der gesetzlichen Vormundschaft) einerseits sowie
Gewaltverhältnissen aufgrund von Maßregeln der Behörden (z.B. die Verteilung der elterlichen Sorge nach §§ 1671 f., 1696 BGB,[499] Anordnung der Kindesherausgabe gem. § 1632 Abs. 2 BGB,[500] Vormundschafts- oder Pflegschaftsanordnung[501] bzw. die Anordnung von Heimerziehung) andererseits.
 

Rz. 366

Behörden sind nach Art. 1 MSA sowohl Gerichte als auch Verwaltungsbehörden.

[491] Der im MSA nicht definierte und selbstständig zu ermittelnde (d.h. nicht vom Aufenthaltsort des Sorgerechtsberechtigten her zu definierende) Begriff des "gewöhnlichen Aufenthalts" ist als der Ort zu verstehen, an dem für eine gewisse Dauer der Schwerpunkt der sozialen Bindungen (i.S. einer Eingliederung durch familiäre, schulische oder berufliche Beziehungen) des Minderjährigen (mithin sein Daseinsmittelpunkt) liegt: BGH NJW 1975, 1068; OLG Stuttgart FamRZ 1997, 51, 52; Staudinger/Kropholler, Vorbem. zu Art. 19 EGBGB Rn 122 ff. Ein Aufenthaltswechsel begründet ggf. einen neuen gewöhnlichen Aufenthalt, so BGH NJW 1981, 520.
[492] Dazu näher MüKo-BGB/Siehr, Art. 19 EGBGB Anhang I Rn 41 ff.; Palandt/Thorn, Anhang I zu Art. 24 EGBGB Rn 13 f.; Staudinger/Kropholler, Vorben. zu Art. 19 EGBGB Rn 38 ff.
[493] Beispiele bei Andrae, Internationales Familienrecht, § 8 Rn 17 ff.
[494] Bspw. die Vollzeitpflege (Pflegekindschaft) nach § 33 SGB VIII und die Heimerziehung (Fürsorgeerziehung) nach § 34 SGB VIII.
[495] Vgl. BGHZ 78, 293, 295; BGH FamRZ 2002, 1182, 1183 = IPRax 2003, 145; OLG Nürnberg FamRZ 2003, 163 = IPRax 2003, 149 = NJW-RR 2002, 1515.
[496] BGBl II, 410.
[497] BGBl 1991 II, 696.
[498] BGBl II, 863.
[499] Vgl. dazu BGHZ 78, 293, 301; BGH NJW 1984, 2761 = IPRax 1985, 40; BGH NJW-RR 1986, 1130 = IPRax 1987, 317; BGH NJW 2002, 2955 = FamRZ 2002, 1182; BayObLG NJW 1997, 901.
[500] Dazu OLG Zweibrücken OLGZ 1981, 146.
[501] BayObLGZ 1981, 246, 252.

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