Rz. 270

BGH, Urt. v. 3.6.2008 – VI ZR 235/07, VersR 2008, 1133

Zitat

ZPO § 286

Die beantragte Einholung eines fachmedizinischen Gutachtens zum Beweis des Ursachenzusammenhangs zwischen einem Unfall und vorhandenen Beschwerden ist nur dann nicht erforderlich, wenn auszuschließen ist, dass die Partei damit den Beweis der Unfallursächlichkeit führen kann.

1. Der Fall

 

Rz. 271

Die Parteien stritten um restliche Schadensersatzansprüche aufgrund eines Verkehrsunfalls. Als die Klägerin mit ihrem Pkw VW Golf an einer Kreuzung vor einer Lichtzeichenanlage, die für sie Rotlicht zeigte, hielt, fuhr ein Mercedes Kombi, dessen Halterin die Beklagte zu 1 und dessen Haftpflichtversicherer die Beklagte zu 2 ist, von hinten auf ihr Fahrzeug auf. Die volle Haftung der Beklagten stand dem Grunde nach außer Streit.

 

Rz. 272

Die Klägerin behauptete, sie habe bei dem Unfall ein HWS-Schleudertrauma und eine schwere Kniegelenksdistorsion rechts erlitten und sei deshalb arbeitsunfähig gewesen. Sie begehrte ein angemessenes Schmerzensgeld von mindestens 2.000 EUR, Ersatz von Heilbehandlungskosten und Ausgleich eines Verdienstausfallschadens.

 

Rz. 273

Das Amtsgericht hat ein biomechanisches Sachverständigengutachten des Diplom-Ingenieurs und Humanbiologen Dr. A. eingeholt und die Klage abgewiesen. Das LG hat die Berufung der Klägerin nach Einholung eines Ergänzungsgutachtens und persönlicher Anhörung des Sachverständigen zurückgewiesen. Mit der vom Berufungsgericht zugelassenen Revision verfolgte die Klägerin ihr Klagebegehren weiter.

2. Die rechtliche Beurteilung

 

Rz. 274

Das angefochtene Urteil hielt der revisionsrechtlichen Nachprüfung nicht stand.

 

Rz. 275

Im Ansatz zutreffend legte das Berufungsgericht allerdings der von ihm vorgenommenen Prüfung, ob die von der Klägerin geklagten Beschwerden auf den Unfall zurückzuführen seien, die strengen Anforderungen des Vollbeweises gemäß § 286 ZPO zugrunde, denn die Frage, ob sich die Klägerin überhaupt eine Verletzung zugezogen hat, betrifft den nach dieser Vorschrift zu führenden Nachweis der haftungsbegründenden Kausalität (BGHZ 4, 192, 196; Senatsurt. v. 11.6.1968 – VI ZR 116/67, VersR 1968, 850, 851; v. 20.2.1975 – VI ZR 129/73, VersR 1975, 540, 541 und v. 21.10.1986 – VI ZR 15/85, VersR 1987, 310, jeweils m.w.N.).

 

Rz. 276

Danach hat das Gericht unter Berücksichtigung des gesamten Inhalts der Verhandlung und des Ergebnisses einer Beweisaufnahme nach freier Überzeugung zu entscheiden, ob eine tatsächliche Behauptung für wahr oder nicht wahr zu erachten ist. Die nach § 286 ZPO erforderliche Überzeugung des Richters erfordert keine absolute oder unumstößliche Gewissheit und auch keine "an Sicherheit grenzende Wahrscheinlichkeit", sondern nur einen für das praktische Leben brauchbaren Grad von Gewissheit, der Zweifeln Schweigen gebietet (st. Rspr.; vgl. BGHZ 53, 245, 256; BGH, Urt. v. 18.4.1977 – VIII ZR 286/75, VersR 1977, 721 und Senatsurt. v. 9.5.1989 – VI ZR 268/88, VersR 1989, 758, 759). Die Würdigung von Sachverständigengutachten ist als Bestandteil der Beweiswürdigung grundsätzlich dem Tatrichter vorbehalten, an dessen Feststellungen das Revisionsgericht gemäß § 559 ZPO gebunden ist. Dieses kann lediglich nachprüfen, ob sich der Tatrichter entsprechend dem Gebot des § 286 ZPO mit dem Prozessstoff und den Beweisergebnissen umfassend und widerspruchsfrei auseinandergesetzt hat, die Beweiswürdigung also vollständig und rechtlich möglich ist und nicht gegen Denkgesetze und Erfahrungssätze verstößt (st. Rspr., vgl. z.B. BGHZ 160, 308, 317 m.w.N.; Senatsurt. v. 1.10.1996 – VI ZR 10/96, VersR 1997, 362, 364).

 

Rz. 277

Die Revision rügte eine unzureichende Sachaufklärung durch das Berufungsgericht und beanstandete, dass dieses seine Beurteilung, die Ursächlichkeit des Unfalls für die von der Klägerin geklagten Beschwerden sei nicht nachgewiesen, allein auf die Bewertung des Sachverständigen Dr. A. gestützt und von einer weiteren Sachaufklärung abgesehen hat.

 

Rz. 278

Dabei wandte sich die Revision nicht dagegen, dass eine Vernehmung der behandelnden Ärzte in den Tatsacheninstanzen unterblieben war. Sie rügte vielmehr, das Berufungsgericht habe die in den von der Klägerin vorgelegten ärztlichen Attesten dokumentierten Diagnosen nicht in ausreichendem Maße gewürdigt.

 

Rz. 279

Welche Bedeutung der medizinischen Erstuntersuchung nach einem Verkehrsunfall zukommt, ist umstritten. So wird in der Rechtsprechung die Frage, inwieweit aus dem Ergebnis einer Erstuntersuchung – wie z.B. der hiernach erfolgten ärztlichen Verordnung einer so genannten Schanz’schen Krawatte – Schlüsse auf den damaligen Befund gezogen werden können, unterschiedlich beurteilt (vgl. OLG Karlsruhe, NZV 2001, 511; OLG Hamm, VersR 2002, 992, 994; OLG München, r+s 2002, 370, 371; a.A. OLG Bamberg, NZV 2001, 470). Da der Arzt, der einen Unfallgeschädigten untersucht und behandelt, diesen nicht aus der Sicht eines Gutachters betrachtet, sondern ihn als Therapeut behandelt, steht für ihn die Notwendigkeit einer Therapie im Mittelpunkt, während die Benennung der Diagnose als solche für ihn z...

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