Rz. 116

BGH, Urt. v. 30.4.1996 – VI ZR 55/95, BGHZ 132, 341 = VersR 1996, 990

Zitat

BGB §§ 249 S. 2, 847; ZPO §§ 253 Abs. 2 Nr. 2, 308 Abs. 1

1. Der Schädiger hat für seelisch bedingte Folgeschäden einer Verletzungshandlung, auch wenn sie auf einer psychischen Anfälligkeit des Verletzten oder sonst wie auf einer neurotischen Fehlverarbeitung beruhen, haftungsrechtlich grundsätzlich einzustehen.
2. Eine Zurechnung kommt nur dann nicht in Betracht, wenn das Schadensereignis ganz geringfügig ist (Bagatelle) und nicht gerade speziell auf die Schadensanlage des Verletzten trifft.
3. Bei der Festsetzung des für angemessen gehaltenen Schmerzensgeldes sind dem Richter im Rahmen des ZPO § 308 durch die Angabe eines Mindestbetrages oder einer Größenordnung nach oben keine Grenzen gezogen.

1. Der Fall

 

Rz. 117

Der Kläger machte Schadensersatzansprüche aus einem Verkehrsunfall vom 25.8.1983 geltend, für dessen Folgen die Beklagte als Haftpflichtversicherer des Unfallgegners einzustehen hatte. Bei dem Zusammenstoß mit dem Pkw des VN der Beklagten, der aus der Gegenrichtung kommend vor ihm nach links abbog, erlitt der damals 46-jährige, als technischer Fernmeldeamtmann bei der Bundespost tätige Kläger folgende Verletzungen: Hals- und Brustwirbelsäulenprellungen mit einem Schleudertrauma der Halswirbelsäule, eine Brustkorbquetschung und Stoßverletzung des Brustbeins, eine Schädelprellung links, ein stumpfes Bauchtrauma mit Buckelung des Zwerchfells rechts, Knieprellungen und eine Distorsion des rechten Handgelenks.

 

Rz. 118

Der Kläger, der sich schon in den Jahren 1965 bis 1982 bei acht Unfällen Verletzungen zugezogen hatte, war seit dem Unfalltag nahezu durchgehend krankgeschrieben. Mehrere stationäre Aufenthalte in verschiedenen Kliniken brachten keine spürbare Besserung seines Zustands. Er litt insbesondere unter Schmerzen im Brust-, Bauch- und Rückenbereich. Vom Betriebsarzt der Bundespost wurde der Kläger schließlich dienstunfähig geschrieben und daraufhin mit Wirkung vom 1.11.1985 in den Ruhestand versetzt.

 

Rz. 119

Mit der Behauptung, er leide noch unter den Folgen des Unfalls und seine Pensionierung sei auch auf dieses Ereignis zurückzuführen, begehrte er u.a. Ersatz von Verdienstausfall und ein Schmerzensgeld, das er in Höhe von mindestens 25.000 DM (abzüglich vorprozessual gezahlter 12.500 DM) für angemessen erachtete, sowie Feststellung der Verpflichtung zum Ersatz allen weiteren Schadens.

 

Rz. 120

Das LG hat die Klage abgewiesen. Das OLG hat ein Schmerzensgeld von 37.500 DM (50.000 DM abzüglich bereits gezahlter 12.500 DM) und den geltend gemachten materiellen Schadensersatz sowie Verdienstausfall teilweise zugesprochen und dem Feststellungsantrag stattgegeben. Die Revision der Beklagten hatte keinen Erfolg.

2. Die rechtliche Beurteilung

 

Rz. 121

Mit Recht hatte das Berufungsgericht die Haftung der Beklagten für die psychosomatischen Beschwerden des Klägers, die sich in einer chronischen Schmerzkrankheit manifestierten, bejaht.

 

Rz. 122

Hat jemand schuldhaft die Körperverletzung oder Gesundheitsbeschädigung eines anderen verursacht, für die er haftungsrechtlich einzustehen hat, so erstreckt sich die Haftung grundsätzlich auch auf die daraus resultierenden Folgeschäden. Das gilt, gleichviel ob es sich dabei um organisch oder psychisch bedingte Folgewirkungen handelt. Der Senat hat wiederholt ausgesprochen, dass die Schadensersatzpflicht für psychische Auswirkungen einer Verletzungshandlung nicht voraussetzt, dass sie eine organische Ursache haben; es genügt vielmehr die hinreichende Gewissheit, dass die psychisch bedingten Ausfälle ohne den Unfall nicht aufgetreten wären. Nicht erforderlich ist, dass die aus der Verletzungshandlung resultierenden (haftungsausfüllenden) Folgeschäden für den Schädiger vorhersehbar waren.

 

Rz. 123

Handelt es sich bei den psychisch vermittelten Beeinträchtigungen hingegen nicht um schadensausfüllende Folgewirkungen einer Verletzung, sondern treten sie haftungsbegründend erst durch die psychische Reaktion auf ein Unfallgeschehen ein, wie dies in den so genannten Schockschadensfällen regelmäßig und bei Aktual- oder Unfallneurosen häufig der Fall ist, so kommt eine Haftung nur in Betracht, wenn die Beeinträchtigungen selbst Krankheitswert besitzen, also eine Gesundheitsbeschädigung i.S.d. § 823 Abs. 1 BGB darstellen, und für den Schädiger vorhersehbar waren.

 

Rz. 124

Im Streitfall geht es um (haftungsausfüllende) Folgewirkungen von Unfallverletzungen. Der Kläger hat bei dem Unfall körperliche Verletzungen erlitten, die aufgrund psychischer Fehlverarbeitung zu psychosomatischen Beschwerden geführt haben. Diese bestehen nach den Feststellungen des Berufungsgerichts in einer organisch nicht fassbaren, psychogenen Schmerzkrankheit, die sich in zunehmenden Schmerzreaktionen von Kopf bis Fuß, nämlich im Kopf, im gesamten Bereich der Wirbelsäule und in den Extremitäten äußert und zu der es ohne den Unfall nicht gekommen wäre. Ohne Erfolg rügte die Revision, dass das Berufungsgericht zum Ausmaß dieser Schmerzzustände keine näheren Feststellungen getro...

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