Rz. 5

Das BVerfG hatte zunächst in mehreren Entscheidungen die Frage der verfassungsrechtlichen Gewährleistung des Pflichtteilsrechts nicht abschließend bestimmt.[13] Mit dem Beschluss vom 30.8.2000[14] hat die erste Kammer des ersten Senats des BVerfG eine Verfassungsbeschwerde, mit der die Verfassungswidrigkeit des Pflichtteilsrechts gerügt wurde und von der man sich eine grundsätzliche Klärung der verfassungsrechtlichen Fragen erwartet hatte, gar nicht zur Entscheidung angenommen, weil ihr keine grundsätzliche Bedeutung zukomme (§ 93a BVerfGG). Erst in seinem sehr ausführlichen Beschluss vom 19.4.2005,[15] der in seiner Begründung über die eigentlichen Anlassfälle weit hinausging, hat das BVerfG umfassend zur Verfassungsmäßigkeit des Pflichtteilsrechts der Abkömmlinge Stellung genommen. Danach wird die grundsätzlich unentziehbare und bedarfsunabhängige wirtschaftliche Mindestbeteiligung der Kinder des Erblassers an dessen Nachlass durch die Erbrechtsgarantie des Art. 14 Abs. 1 S. 1 GG i.V.m. Art. 6 GG gewährleistet

 

Rz. 6

Das BVerfG begründet sein Ergebnis insb. mit einer historischen Auslegung, wonach das Pflichtteilsrecht der Abkömmlinge zu den "Kernelementen des deutschen Erbrechts" gehöre.[16] Keine Beachtung schenkt das BVerfG dabei der Tatsache, dass der Gesetzgeber des BGB ausdrücklich die Frage des Verhältnisses von Testierfreiheit und Familienerbrecht offen gelassen hat.[17] Weiter begründet das BVerfG seine Entscheidung damit, dass die durch das Pflichtteilsrecht vermittelte Nachlassteilhabe der Kinder Ausdruck einer persönlichen, ideellen und wirtschaftlichen Familiensolidarität sei. Diese bestehe in grundsätzlich unauflösbarer Weise zwischen dem Erblasser und seinen Kindern und sei durch Art. 6 Abs. 1 GG als lebenslange Gemeinschaft geschützt, in der Eltern wie Kinder nicht nur berechtigt, sondern auch verpflichtet sind, füreinander sowohl materiell als auch persönlich Verantwortung zu übernehmen. Dabei knüpfe das Pflichtteilsrecht, wie das Unterhaltsrecht, an die familienrechtlichen Beziehungen an und übertrage diese regelmäßig durch Abstammung begründete und zumeist durch familiäres Zusammenleben untermauerte Solidarität zwischen den Generationen in den Bereich des Erbrechts. Davon ausgehend habe das Pflichtteilsrecht "die Funktion, die Fortsetzung des ideellen und wirtschaftlichen Zusammenhangs von Vermögen und Familie – unabhängig vom konkreten Bedarf des Kindes – über den Tod des Vermögensinhabers hinaus zu ermöglichen".[18] Hierbei klingt auch das Argument der Erhaltung des Familienvermögens an.[19]

 

Rz. 7

Keine verfassungsrechtlichen Vorgaben bestehen aber für die Art der gebotenen Nachlassteilhabe.[20] Vielmehr steht dem Gesetzgeber ein Gestaltungsspielraum für die inhaltliche Ausgestaltung des Pflichtteilsrechts zu. Dieser betrifft sowohl die Höhe wie aber auch die Einzelheiten der gesetzestechnischen Ausformung des Pflichtteilsanspruchs. Nicht geklärt hat das BVerfG die Frage, ob das Pflichtteilsrecht der Eltern ebenfalls verfassungsrechtlich gewährleistet ist. Hierzu finden sich in dem Beschluss vom 19.4.2005 auch keine tragfähigen Ansatzpunkte, aus denen sich entsprechende Schlussfolgerungen entnehmen ließen.[21]

[13] BVerfGE 99, 341, 350 f. = ZEV 1999, 147 (Testiermöglichkeit von Mehrfachbehinderten); BVerfGE 91, 346, 359 = NJW 1995, 2977 (Zuweisungsverfahren nach dem GrdVG); BVerfGE 78, 132, 154 (zu § 23 SchlHAGBGB); BVerfGE 67, 329, 342 (Abfindungsansprüche nach den §§ 12, 13 HöfeO); BVerfGE 58, 377, 398; ausführlich aber BVerfG NJW 2001, 141 = ZEV 2000, 399 m. krit. Anm. J. Mayer, ZEV 2000, 447 = ZErb 2000, 209 m. Anm. Leisner, NJW 2001, 126; zur einstweiligen Anordnung gegen die Zwangsvollstreckung eines Pflichtteilsanspruchs BGH FamRZ 2001, 277 = NJW 2001, 1484.
[14] BVerfG NJW 2001, 141 = ZEV 2000, 399 m. krit. Anm. J. Mayer, ZEV 2000, 447 = ZErb 2000, 209 und krit. Anm. Leisner, NJW 2001, 126 und dazu krit. ZErb Heft 6, 2000, V ("Viel Lärm um nichts?").
[15] BVerfGE 112, 332 = NJW 2005, 1561 = FamRZ 2005, 872; eingehender dazu Kleensang, ZEV 2005, 277; Lange, ZErb 2005, 205; Stüber, NJW 2005, 2122; J. Mayer, FamRZ 2005, 1441; Otte, JZ 2005, 1007.
[16] Tz 66 des Beschlusses v. 19.4.2005.
[17] Ausführlich dazu Kleensang, DNotZ 2005, 509; vgl. bereits Mertens, Die Entstehungsgeschichte der Vorschriften über die gesetzliche Erbfolge und das Pflichtteilsrecht, 1970, S. 2–23.
[18] Tz 73 des Beschlusses v. 19.4.2005; ähnlich bereits Martiny, 64. DJT 2002 I A 69 f. und jetzt vor allem Schöpflin, FamRZ 2005, 2025, 2026.
[19] Dagegen relativierend Gaier, ZEV 2006, 2, 6 Fn 66: "kein zentrales Argument der Entscheidung".
[20] Vgl. dazu MüKo-BGB/Lange, § 2303 Rn 6; Leipold, JZ 2010, 802, 805 f.
[21] Ebenso Leipold, JZ 2010, 802, 805.

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