Rz. 14

Art. 49 AEUV[19] verbietet jegliche Beschränkungen der freien Niederlassung von Staatsangehörigen eines Mitgliedstaates im Hoheitsgebiet eines anderen Mitgliedstaates (primäre Niederlassungsfreiheit). Das Gleiche gilt für Beschränkungen der Gründung von Agenturen, Zweigniederlassungen oder Tochtergesellschaften durch Angehörige eines Mitgliedstaates, die im Hoheitsgebiet eines Mitgliedstaates ansässig sind (sekundäre Niederlassungsfreiheit). Art. 54 AEUV erstreckt diese Freiheiten auf die nach den Rechtsvorschriften eines Mitgliedstaates gegründeten Gesellschaften, die ihren satzungsmäßigen Sitz, ihre Hauptverwaltung oder ihre Hauptniederlassung innerhalb der Gemeinschaft haben.

 

Rz. 15

Wegen dieses klaren Wortlauts ging zunächst in Deutschland ein Teil der Lehre davon aus, die Sitztheorie verstoße gegen die Niederlassungsfreiheit, da bei einer in einem anderen Mitgliedstaat gegründeten Gesellschaft die Anerkennung in Deutschland nicht mehr gewährleistet sei, wenn der effektive Verwaltungssitz nach Deutschland oder in einen anderen EU-Mitgliedstaat verlegt worden ist.[20]

 

Rz. 16

1988 entschied der EuGH im Fall "Daily Mail",[21] dass die Regierung des Vereinigten Königreichs nicht das Recht von Daily Mail auf Niederlassungsfreiheit verletze, wenn es die Verlegung der Geschäftsleitung einer Gesellschaft von London aus in die Niederlande von einer vorherigen Genehmigung durch das englische Schatzamt abhängig mache. Der Fall hatte eigentlich mit der zivilrechtlichen Anerkennung von Gesellschaften und der Sitztheorie nichts zu tun, denn in Großbritannien gilt seit jeher die Gründungstheorie. Für die Verlegung der Geschäftsleitung in das Ausland war allein aus steuerlichen Gründen die Genehmigung (Offenlegung stiller Reserven vor der "Entstrickung") erforderlich. Der EuGH führte aus, die Gleichstellung der Anknüpfungsmerkmale des Satzungssitzes, der Hauptverwaltung und der Hauptniederlassung in Art. 54 AEUV[22] zeige, dass der EG-Vertrag die Bestimmung des Gesellschaftsstatuts und die Zulässigkeit und Folgen grenzüberschreitender Sitzverlegungen als Probleme ansehe, die durch den Vertrag nicht unmittelbar gelöst würden.

Dieses obiter dictum wurde von der h.L. und der Rechtsprechung als Bestätigung dafür genommen, dass die der Gewährung der Niederlassungsfreiheit vorgreifliche Frage, ob eine Gesellschaft wirksam gegründet und überhaupt rechtsfähig sei, dem nationalen Kollisionsrecht überlassen sei und daher unter Zugrundelegung der Sitztheorie verneint werden könne.[23]

 

Rz. 17

Diese Zuversicht währte bis zur Entscheidung des EuGH in Sachen "Centros" vom 9.3.1999.[24] Dort hatten zwei in Dänemark lebende dänische Staatsangehörige in England die Centros Ltd. als private limited company mit einem Stammkapital von 100 £ gegründet. Alleiniger Zweck der Gesellschaft war die Errichtung einer Zweigniederlassung in Dänemark. Die dänischen Behörden lehnten die Eintragung der "Zweigniederlassung" in das Handelsregister mit der Begründung ab, dass die Gesellschafter mit der Errichtung der limited company in England und der anschließenden Errichtung der Zweigniederlassung in Dänemark die Aufbringung des vom dänischen Recht vorgeschriebenen Mindestkapitals umgehen wollten. Diese Umgehungsabsicht wurde von den Klägern nicht bestritten. Das sei nach den dänischen Gerichten rechtsmissbräuchlich.

Der EuGH erklärte die Verweigerung der Eintragung der Zweigniederlassung durch die dänischen Behörden für unzulässig. Die Ablehnung verletze das in Art. 43 EGV (jetzt: Art. 49 AEUV) niedergelegte Recht auf Niederlassungsfreiheit. Die Ausnützung in einem anderen EGV-Mitgliedstaat geltender vorteilhafter gesellschaftsrechtlicher Bestimmungen sei legitim und dürfe nicht als Missbrauch behandelt werden.

 

Rz. 18

Die Entscheidung löste in Deutschland eine lebhafte Kontroverse. Viele behaupteten, die Sitztheorie sei nun endgültig obsolet.[25] Andere wiesen darauf hin, dass in Dänemark die Gründungstheorie ohnehin schon gelte, so dass die englische limited company dort als rechtsfähig anzuerkennen war und die dortigen Behörden ihre Argumentation ausschließlich auf den Missbrauchsvorwurf stützen konnten.

 

Rz. 19

Um diese Kontroverse zu klären, legte der VII. Senat des BGH daher in der Sache Überseering diese Frage dem EuGH vor. Dort ging es um eine in den Niederlanden gegründete GmbH, die Überseering B.V. Diese klagte gegen eine deutsche GmbH. Noch vor Klageerhebung allerdings waren die Geschäftsanteile an der B.V. von den ursprünglichen, in den Niederlanden lebenden Gesellschaftern auf zwei in Düsseldorf lebende Personen übertragen worden, die von da an die Geschäfte der Gesellschaft ausschließlich von Düsseldorf aus betrieben. Der BGH verneinte die Parteifähigkeit der B.V., da die Gesellschaft wegen ihres effektiven Verwaltungssitzes im Inland nach dem deutschen Recht zu beurteilen und mangels Eintragung im deutschen Handelsregister nicht wirksam gegründet sei. Ihr ginge daher die Rechtsfähigkeit und damit auch die Parteifähigkeit ab.[26]

Der EuGH en...

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