Rz. 237
§ 113 BetrVG sieht vor, dass der Unternehmer von seinen Arbeitnehmern auf Zahlung eines Nachteilsausgleichs in Anspruch genommen werden kann, wenn er entweder
▪ | ohne zwingenden Grund von einem Interessenausgleich über die geplante Betriebsänderung abweicht oder |
▪ | er eine geplante Betriebsänderung nach § 111 BetrVG durchführt, ohne über sie einen Interessenausgleich mit dem Betriebsrat versucht zu haben. |
Rz. 238
Werden Arbeitnehmer infolge einer Abweichung vom Interessenausgleich entlassen, können diese beim Arbeitsgericht Klage erheben auf Zahlung einer Abfindung. § 10 KSchG gilt hier sodann entsprechend. Erleiden Arbeitnehmer infolge der Abweichung vom Interessenausgleich andere wirtschaftliche Nachteile, so sind diese Nachteile bis zu einem Zeitraum von 12 Monaten auszugleichen. Dies gilt auch, wenn der Unternehmer die Betriebsänderung ganz ohne Versuch eines Interessenausgleichs durchführt. § 113 BetrVG soll Verstöße gegen die betriebsverfassungsrechtlichen Rechte des Betriebsrates sanktionieren und räumt deshalb den Arbeitnehmern gegen den Arbeitgeber individualrechtliche Ausgleichsansprüche ein, die unabhängig vom Verschulden des Arbeitgebers entstehen.[263] Da § 113 seinem Wortlaut nach an den Interessenausgleich anknüpft, stehen die Ansprüche Beschäftigten auch dann zu, wenn der Betriebsrat den Abschluss eines Sozialplanes gar nicht über die Einigungsstelle erzwingen könnte. Dies folgt daraus, dass der Arbeitgeber auch dann verpflichtet ist, einen Interessenausgleich über eine geplante Betriebsänderung zu versuchen, nötigenfalls bis zur Einigungsstelle, selbst wenn die Sozialplanpflicht nach § 112a BetrVG ausgeschlossen ist.[264]
1. Abweichen vom Interessenausgleich
Rz. 239
Auch wenn es sich bei dem Interessenausgleich nur um eine kollektive Vereinbarung besonderer Art handelt, bindet er den Arbeitgeber doch und zwingt ihn, die Betriebsänderung in der im Interessenausgleich vorgesehenen Art und Weise durchzuführen. Eine Abweichung wäre nur aus zwingendem Grund möglich. Das müssen jedoch Gründe sein, die bei den Verhandlungen über den Interessenausgleich noch nicht bekannt waren und nachträglich aufgetreten sind. Weil diese Gründe zwingend sein müssen, muss es sich um außerhalb der Sphäre des Arbeitgebers liegende Gründe handeln, die so gravierend sind, dass dem Arbeitgeber praktisch keine andere Wahl bleibt, als vom vereinbarten Interessenausgleich abzuweichen und das ohne, dass die Abweichung der Bestand des Unternehmens gefährdet wäre.[265] In der Literatur werden als Beispiele genannt der überraschende Verlust von Großaufträgen, die Insolvenz eines Hauptkunden oder ein schwerwiegender Rohstoff- oder Energiemangel.[266] Handelt es sich hingegen um eine völlig neue Betriebsänderung, ist der Tatbestand des § 113 BetrVG nicht eröffnet. Vielmehr ist das Beteiligungsverfahren erneut in Gang zu setzen.[267]
Rz. 240
Hinweis
Problematisch sind die Fälle, in denen nicht klar ist, ob eine Maßnahme des Arbeitgebers eine Abweichung vom Interessenausgleich ist oder vielmehr eine neue Maßnahme, die mit der verhandelten Betriebsänderung nicht im Zusammenhang steht. Erfüllt die neue Maßnahme dann nicht die Tatbestandsvoraussetzungen des § 111 BetrVG, könnten Arbeitnehmer "leer ausgehen". Um darzulegen, dass gleichwohl eine Abweichung vom Interessenausgleich und keine neue Maßnahme vorliegt, kann es hilfreich sein, die Dokumente und Unterlagen, die der Betriebsrat während der Interessenausgleichsverhandlungen mit dem Arbeitgeber beraten hat, daraufhin zu untersuchen, ob sich in diesen Hinweise auf Motive, Gründe und Ursachen der geplanten Betriebsänderungen ergeben oder gar Hinweis auf die jetzt neu umgesetzte Maßnahme. Finden sich in den Unterlagen hierzu Ansatzpunkte, so wird von einer Abweichung vom ursprünglichen Interessenausgleich auszugehen sein und nicht von einer neuen davon unabhängigen Maßnahme.
Rz. 241
Keine Abweichung ist natürlich das Unterlassen der vereinbarten Betriebsänderung durch den Arbeitgeber. Das Unterbleiben der Kündigung und das Ausbleiben einer Sozialplanabfindung ist kein auszugleichender Nachteil i.S.v. § 113 BetrVG.[268]
2. Unterlassen des Versuchs eines Interessenausgleichs
Rz. 242
Der Nachteilsausgleichsanspruch entsteht auch, wenn der Unternehmer erst gar nicht den Versuch unternimmt, mit dem Betriebsrat einen Interessenausgleich zu unternehmen, sondern die Betriebsänderung vornimmt oder mit der Vornahme nicht bis zum Abschluss der Interessenausgleichsverhandlungen abwartet. Anknüpfungspunkt ist eine Handlung des Arbeitgebers, mit der er die Betriebsänderung beginnt und vollendete, unumkehrbare Tatsachen schafft.[269] Selbst wenn die Betriebsänderung dem Unternehmen zwingend erscheint, muss er vor Durchführung der Betriebsänderung alle Möglichkeiten zur Herbeiführung eines Interessenausgleichs ausschöpfen und nötigenfalls die...
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