Rz. 1062

Unter "Entlassung" wurde bisher nicht der rechtliche Beendigungstatbestand verstanden, insbesondere der Ausspruch der Kündigung, sondern erst die dadurch herbeigeführte tatsächliche Beendigung des Arbeitsverhältnisses bzw. das tatsächliche Ausscheiden der Arbeitnehmer aus dem Betrieb (vgl. § 17 Abs. 1 S. 2 n.F.).[1054]

 

Rz. 1063

Nach § 17 Abs. 1 S. 1 Nr. 1 KSchG ist der Arbeitgeber verpflichtet, der Agentur für Arbeit schriftlich (§ 17 Abs. 3 S. 2 KSchG) Anzeige zu erstatten, bevor er in Betrieben mit in der Regel mehr als 20 und weniger als 60 Arbeitnehmern mehr als fünf Arbeitnehmer innerhalb von 30 Kalendertagen entlässt. Den Entlassungen stehen andere Beendigungen des Arbeitsverhältnisses gleich, die vom Arbeitgeber veranlasst werden (§ 17 Abs. 1 S. 2 KSchG). Zur Berücksichtigung von beabsichtigten – und auch geschlossenen – Aufhebungsverträgen im Rahmen eines stilllegungsbedingten Personalabbaus als "andere Beendigungen" i.S.v. § 17 Abs. 1 S. 2 KSchG hat das BAG ausgeführt; Auch zur Berücksichtigung von "anderen Beendigungen" (§ 17 Abs. 1 S. 2 KSchG) bei der Berechnung des Schwellenwertes von fünf Entlassungen (§ 17 Abs. 1 S. 1 Nr. 1 KSchG) ist unter dem Begriff "Entlassung" die Erklärung der Kündigung zu verstehen.[1055]

 

Rz. 1064

Bei der Zahl der zu entlassenden Arbeitnehmer nach § 17 Abs. 1 KSchG sind nach der Ansicht des LAG Stuttgart allerdings auch die Arbeitnehmer zu berücksichtigen, die auf Veranlassung des Arbeitgebers bereits vor Ausspruch der Kündigungen einen dreiseitigen Vertrag zur Aufhebung des Arbeitsverhältnisses und Übertritt in eine Beschäftigungs- und Qualifizierungsgesellschaft unterzeichnet haben.[1056]

 

Rz. 1065

Erhalten Arbeitnehmer aus betriebsbedingten Gründen Änderungskündigungen, zählt dies als "Entlassung". Selbst wenn Beschäftigte die Änderungskündigung angenommen haben, kann damit der Arbeitgeber zur Anzeige der Kündigungen bei der Arbeitsagentur verpflichtet sein. Diese zähle daher auch bei der Berechnung des Schwellenwertes mit, ab wann ein Arbeitgeber eine Massenentlassungsanzeige bei der Arbeitsagentur vornehmen muss. Als "Entlassung" gelte eine Kündigungserklärung. Das Gesetz unterscheide nicht zwischen unterschiedlichen Formen der Kündigung. "Auch wenn die Änderungskündigung im Ergebnis lediglich auf eine Änderung der Vertragsbedingungen zielt, handelt es sich bei ihr doch – wegen der mit ihr verbundenen Kündigungserklärung – um eine “echte’ Kündigung, stellte der 2. BAG-Senat klar. Die Arbeitsagentur müsse zudem die Möglichkeit haben, selbst bei Änderungskündigungen nach Lösungen und Problemen im Betrieb zu suchen. Denn weder Arbeitgeber noch Arbeitsverwaltung könnten wissen, ob der betroffene Arbeitnehmer das Änderungsangebot annimmt oder dem Arbeitsmarkt wieder zur Verfügung steht.[1057]"

 

Rz. 1066

Der EuGH hat in der sog. "Junk"-Entscheidung jedoch anders entschieden.[1058] Entgegen der bisherigen deutschen Rechtsprechung müssen die Konsultation des Betriebsrates und die Anzeige an die Bundesagentur für Arbeit bei Massenentlassungen bereits vor Ausspruch der Kündigungen stattfinden. Dadurch verzögert sich ggf. das Verfahren bei Massenentlassungen, das gem. §§ 17 und 18 KSchG bei der Arbeitsverwaltung anzuzeigen ist, erheblich. Denn bislang konnte der Arbeitgeber die Kündigungen aussprechen und hatte dann Zeit, parallel zum Lauf der Kündigungsfristen das Anzeigeverfahren bei der Agentur für Arbeit einzuleiten.

 

Rz. 1067

In der maßgeblichen Richtlinie RL 98/59/EG vom 20.7.1998 heißt es: "Der Arbeitgeber hat der zuständigen Behörde alle beabsichtigten Massenentlassungen schriftlich anzuzeigen“ (Art. 3 Abs. 1). Der EuGH bezieht sich in seinem Urteil auf den Wortlaut sowie auf den Zweck der vorgeschriebenen Entlassungsanzeige. Aus dem Wortlaut der "beabsichtigten" Massenentlassung schließt er, dass die Anzeige an die Arbeitsagentur bereits vor der Entscheidung des Arbeitgebers über die Kündigungen stattfinden muss. Denn die Anzeige diene dazu, der Arbeitsagentur Zeit einzuräumen, um Lösungen für die durch die Massenentlassung auftretenden Probleme zu finden. Der dafür vorgeschriebene Mindestzeitraum von 30 Tagen müsse vor dem Ausspruch der Kündigung zur Verfügung stehen, andernfalls könnten Lösungen für Probleme gar nicht mehr gefunden werden."

 

Rz. 1068

Gleiches gilt für die Vorschrift aus der Richtlinie, dass der Arbeitgeber "vor der beabsichtigten Massenentlassung" die Arbeitnehmervertreter zu konsultieren habe – im deutschen Recht also das Anhörungsverfahren beim Betriebsrat und Interessenausgleich sowie Sozialplanverfahren stattfinden muss. Auch hier betont der EuGH, dass ausdrücklich von "beabsichtigten" Entlassungen die Rede ist. Auch hier dürfe eine Entscheidung des Arbeitgebers, zu kündigen oder nicht, noch nicht getroffen sein. Denn für den Betriebsrat wäre es erheblich schwieriger, die Rücknahme einer bereits getroffenen Entscheidung zu erreichen als den Verzicht auf eine beabsichtigte Entscheidung.

 

Rz. 1069

Das LAG Berlin, das LAG Köln und das LAG Niedersachs...

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