Rz. 64

Ohne Kenntnis der Bedienungsanleitung kann die Verteidigung die Ordnungsgemäßheit der Messung nicht nachvollziehen und den Messbeamten auch nicht zielführend befragen. Sofern die Bedienungsanleitung nicht in der Akte enthalten ist, muss sie gesondert eingefordert werden.

Ein großer Teil der Rechtsprechung war sich bereits einig, dass die Verteidigung hier ein Einsichtsrecht hat – jedenfalls wenn dargelegt wird, inwiefern die Anleitung zur Prüfung des Tatvorwurfs erforderlich ist.[137] Zuletzt hatten der VerfGH Rheinland-Pfalz[138] und der VerfGH Baden-Württemberg[139] 2020 moniert, dass eine Divergenzvorlage zum BGH fällig sei. Mit der Entscheidung des Bundesverfassungsgerichts vom 12.11.2020 sollten auch die übrigen Gerichte einschwenken. Auch hiernach muss die Verteidigung einen sachlichen und zeitlichen Zusammenhang der begehrten Auskunft mit dem Messergebnis darlegen, welcher erkennbare Relevanz zur Tatfrage hat. Dies muss zudem in zeitlicher Hinsicht ausreichend früh gestellt werden, um eine Verfahrensverzögerung zu verhindern.[140]

Für den Anspruch auf Einsicht in die Bedienungsanleitung stellt dies keine nennenswerte Hürde dar, nachdem standardisierte Messanlagen nur gemäß ihrer Bedienungsanleitung zu verwenden sind. Die Kenntnis der Bedienungsanleitung ist für eine effektive Verteidigung ebenso essenziell wie die Kenntnis der Akte. Ob die Verteidigung zukünftig tatsächlich auf diese offensichtliche Relevanz hinweisen muss, bleibt abzuwarten. Bis auf weiteres sollte vorsichtshalber der Antrag diesbezüglich begründet werden.

 

Rz. 65

 

Praxistipp

1. Die erforderlichen Informationen sind rechtzeitig, d.h. bereits im Verwaltungsverfahren bei der Bußgeldstelle anzufordern, um sich im anschließenden Gerichtsverfahren nicht dem Vorwurf der unverhältnismäßigen Verfahrensverschleppung auszusetzen.
2. Vorsorglich ist neben dem Auskunftsantrag für den häufigen Fall, dass die Behörde die weiteren Auskünfte verweigert, ein Antrag auf gerichtliche Entscheidung gem. § 62 Abs. 1 OWiG zu stellen. Verweigert eine andere Stelle als die Verwaltungsbehörde die Auskunft, ist zunächst gegen diese Entscheidung ein Verwaltungsakt herbeizuführen, gegen den dann wiederum mit § 62 OWiG vorgegangen werden kann.[141]
3. Der Antrag auf gerichtliche Entscheidung hat keine aufschiebende Wirkung.[142] Für den Fall der Nichtabhilfe sollte nach der Überleitung vom Verwaltungsverfahren ins Gerichtsverfahren das zuständige Amtsgericht hierüber in Kenntnis gesetzt werden und beantragt werden, das Verfahren auszusetzen, bis die Behörde die erforderlichen Informationen vorgelegt hat. Wie bereits ausgeführt, liegt die Relevanz der Kenntnis von der Bedienungsanleitung auf der Hand. Dennoch empfiehlt sich ein kurzer Hinweis auf die Entscheidung des Bundesverfassungsgerichts, wonach die Perspektive des Betroffenen bzw. seines Verteidigers maßgeblich ist und die Verteidigung grundsätzlich jeder auch bloß theoretischen Aufklärungschance nachgehen kann.[143]
4. Setzt das Amtsgericht nicht aus, müssen die begehrten Informationen in der Hauptverhandlung zwingend nochmals (schriftlich!) wie in Punkt 4 dargelegt und die Aussetzung beantragt werden, bezugnehmend auf den bisherigen Verfahrensgang. Erst dieser Zwischenrechtsbehelf gem. § 238 Abs. 2 StPO i.V.m. § 46 Abs. 1 OWiG führt zu einem angreifbaren Gerichtsbeschluss.
5. Setzt sich das Amtsgericht über die rechtzeitige und formal korrekt eingebrachte Verteidigung hinweg, begründet dessen negativer Gerichtsbeschluss die Rechtsbeschwerde. Bei zulassungsbedürftigen Rechtsbeschwerden (hier also i.d.R. OWi ohne Fahrverbot) liegt beim Verstoß gegen den Grundsatz des fairen Verfahrens zumindest ein Zulassungsgrund analog § 80 Abs. 1 Nr. 2 OWiG vor.[144]
6. Wichtig ist zudem, dass ein Teil der Obergerichte absehbar an ihrer Rechtsprechung festhalten werden, wonach sich über die erste Instanz hinaus um die Erlangung der verwehrten Unterlagen bemüht werden muss.[145]
 

Rz. 66

In der letzten Zeit sind Behörden vermehrt dazu übergegangen, dem Verteidiger einen Link samt Passwort zur jeweiligen Bedienungsanleitung zu übermitteln, mit welchem diese im Internet abgerufen werden kann. Umso mehr erstaunt, dass andere Behörden immer noch die Einsicht in die Bedienungsanleitung (derselben Hersteller!) mit grenzwertigen Argumenten verweigern:

Das Urheberrecht wird nicht verletzt, denn § 45 UrhG erlaubt ausdrücklich die Vervielfältigung zum Zwecke der Rechtspflege. Ohnehin hat das Urheberrecht hinter den Grundsätzen des rechtlichen Gehörs und des fairen Verfahrens zurückzustehen.[146] Dem vereinzelt ins Feld geführten Argument der Unzumutbarkeit der Behörde kann entgegengehalten werden, dass jedenfalls eine Übermittlung in digitaler Form möglich ist.[147] Eine Übermittlung der Akte in die Kanzleiräume ist der Regelfall gem. § 32f Abs. 2 S. 3 StPO i.V.m. § 46 Abs. 1 OWiG bzw. Nr. 187 Abs. 2, 296 RiStBV. Insofern ist nicht erkennbar, warum dies bei der Bedienungsanleitung anders gehandhabt werden soll.[148] Die Verteidigung k...

Das ist nur ein Ausschnitt aus dem Produkt Deutsches Anwalt Office Premium. Sie wollen mehr?

Anmelden und Beitrag in meinem Produkt lesen


Meistgelesene beiträge