BVerfG kippt wesentlichen Teil der Hartz-IV-Sanktionen

Die vom Gesetz vorgesehenen Kürzungen der Hartz-IV-Leistungen bei Verletzung der Mitwirkungspflichten der Betroffenen sind teilweise unverhältnismäßig und daher verfassungswidrig. Kürzungen von 60 oder 100 % verletzen die Menschenwürde und widersprechen dem Schutzauftrag des Staates.

Insgesamt ist das geltende Sanktionierungssystem für Hartz-IV-Bezieher mit der Verfassung nicht vereinbar. Die teilweise einschneidenden Kürzungen bei Pflichtverletzungen sind mit der von Art. 1 GG geschützten Menschenwürde sowie dem Sozialstaatsprinzip des Art. 20 GG nicht vereinbar.

SG Gotha leitete Normenkontrollverfahren ein

Geklagt hatte ein Sozialhilfeempfänger in Thüringen. Das Jobcenter in Erfurt hatte dem arbeitslosen Kläger die Sozialleistungen zunächst um 30 % gekürzt, nachdem dieser einem durch das Jobcenter vermittelten Arbeitgeber erklärt hatte, kein Interesse an der angebotenen Lagertätigkeit zu haben. Er wolle als Verkäufer im Verkaufsbereich arbeiten. Einen Aktivierungs- und Vermittlungsgutschein für eine praktische Erprobung im Verkaufsbereich löste der Kläger dennoch nicht ein. Darauf stufte das Jobcenter den Regelbedarf um 60 % auf einen Monatsbetrag von 234,60 EUR herunter.

Das Sozialgericht in Gotha hatte Zweifel an der Verfassungsgemäßigkeit der diesen Maßnahmen zugrunde liegenden Kürzungsvorschriften der §§ 31, 31a, 31b SGB II und legte diese in einem Verfahren der konkreten Normenkontrolle dem BVerfG zur Überprüfung vor.

BVerfG zu Hartz IV: Fördern ja, fordern aber nur in den Grenzen des GG

Das BVerfG hat in seiner Entscheidung dem Prinzip „Fordern und fördern“ zwar keine komplette Absage erteilt, die bisherigen Regelungen aber deutlich zurechtgestutzt.

Als zu stark, zu einschneidend, zu lange und zu starr bewerteten die Richter die gesetzlich geregelten Kürzungen, auch Härtefälle fänden im Gesetz keine hinreichende Berücksichtigung.

Darf man Hartz IV Empfängern über Monate in Geldhahn komplett zu drehen?

Das darf man nicht, urteilte das höchste deutsche Gericht, das widerspreche dem Verhältnismäßigkeitsgrundsatz. Die in Art. 1 GG  geschützten Würde des Menschen stelle in Verbindung mit dem Sozialstaatsprinzip des Art. 20 GG an den Gesetzgeber die Anforderung, die Grundsicherungsleistungen so auszugestalten, dass für die Betroffenen ein menschenwürdiges Existenzminimum gewährleistet werde.

Der Schutzauftrag des Staates gebiete es, dass der Staat die Voraussetzungen dafür schaffe, dass jeder Mensch ein eigenverantwortliches Leben führen kann.

Nachranggrundsatz ist legitim

Diese Grundsätze verwehren es nach Auffassung der Verfassungsrichter dem Gesetzgeber allerdings nicht, die Inanspruchnahme sozialer Leistungen zur Sicherung einer menschenwürdigen Existenz an den Nachranggrundsatz zu binden, das heißt, solche Leistungen nur dann zu gewähren, wenn Menschen ihre Existenz nicht selbst sichern können.

Gestaltungsspielraum des Gesetzgebers

Das GG eröffne dem Gesetzgeber hierbei einen Gestaltungsspielraum. Innerhalb dieses Gestaltungsspielraums könne der Gesetzgeber von den Hilfsbedürftigen verlangen, an der Überwindung ihrer Hilfsbedürftigkeit selbst aktiv mitzuwirken und gegebenenfalls durch Erwerbstätigkeit ihre Hilfsbedürftigkeit nachhaltig zu beseitigen.

Die in § 31 Abs. 1 SGB II postulierten Mitwirkungspflichten entsprächen im Prinzip diesen Grundsätzen. Allerdings müsse der Hilfsbedürftige für eine ihm angebotene Erwerbstätigkeit geeignet und sie müsse ihm zumutbar sein.

Sanktionen müssen verhältnismäßig sein

Grundsätzlich habe der Staat das Recht, Menschen, denen er Hilfe zuteil werden lässt, auch Pflichten aufzuerlegen. Für den Fall, dass der Hilfsbedürftige ohne triftigen Grund diesen Pflichten nicht nachkomme, dürfe der Staat Sanktionen vorsehen, mit deren Hilfe er die Erfüllung der Mitwirkungspflichten durchzusetzen versuche. Diese Sanktionen seien jedoch an einem strengen Verhältnismäßigkeitsmaßstab zu messen.

System sich steigernder Hartz IV-Sanktionen

Der Regelsatz für Hartz-IV-Empfänger gemäß § 20 SGB II beträgt zurzeit monatlich 424 Euro nebst speziellen Nebenleistungen gemäß § 21 ff. SGB II für Wohnen, besondern Kleiderbedarf und ähnliches für eine alleinstehende Person.

  • Lehnt der Betroffenen ein zumutbares Jobangebot ohne triftigen Grund einmal ab, wird gemäß § 31a Abs. 1 Satz 1 SGB II eine Kürzung um 30 % verfügt.
  • Lehnt er ein zweites Mal ein Jobangebot ab, so beträgt die Kürzung 60 %,
  • bei der dritten Pflichtverletzung (Ablehnung eines Jobangebots) werden die Zahlungen komplett eingestellt.
  • Die Kürzungen werden jeweils auf drei Monate befristet, § 31b SGB II.

 Wer innerhalb eines Jahres mehrfach negativ auffällt, verliert 60 Prozent oder sogar das gesamte Arbeitslosengeld II, samt den Kosten für Unterkunft und Heizung.

Hartz-IV-Sanktionen greifen zu tief in das Existenzminimum ein

Die Sanktionssystem bewertet das höchste deutsche Gericht in den Steigerungsstufen als zu hart. Eine völlige Zahlungseinstellung gehe in aller Regel zu weit.

Nur in besonders gelagerten Ausnahmefällen, in denen eine tatsächlich existenzsichernde unzumutbare Erwerbstätigkeit ohne erkennbaren Grund verweigert wird, könne im jeweils genau zu prüfenden Einzelfall ein vollständiger Leistungsentzug zu rechtfertigen sein. Hierzu müsse der Gesetzgeber aber eine klare und den Grundsatz der Verhältnismäßigkeit streng berücksichtigende Regelung treffen. Auch die Kürzung in Höhe von 60 % nach der zweiten Pflichtverletzung bewerten die Verfassungsrichter als einen in der Regel zu weit gehenden Eingriff in das zum Leben erforderliche Existenzminimum.

Keine Bedenken gegen 30 % Kürzung

Eine Kürzung um 30 % ist nach Auffassung der Verfassungsrichter allerdings zulässig. Eine solche Kürzung erscheint dem Senat durchaus dazu geeignet, den Betroffenen zu einer Mitwirkung an der Überwindung seiner Hilfsbedürftigkeit zu motivieren. Allerdings ist auch diese Sanktion nur unter der Voraussetzung der Beachtung der Verhältnismäßigkeit im Einzelfall zulässig. D.h. nach dem Urteil des Gerichts, dass auch von der 30-prozentigen Kürzung in einem Fall außergewöhnlicher Härte von der Sanktion abgesehen werden kann und diese - wie auch die übrigen Sanktionen - nicht starr über drei Monate andauern dürfe. Im Fall der ernsthaften Bereitschaft des Betroffenen zur Erfüllung der zuvor verletzten Pflichten, müsse eine vorzeitige Aufhebung der Sanktionen möglich sein.

Urteil mit sofortiger Wirkung für die Betroffenen

Das Urteil des  BVerfG entfaltet mit seiner Verkündigung am 5.11.2019 sofortiger Wirkung. Wegen der erheblichen Grundrechtsverletzungen durch die jetzige gesetzliche Regelung, verfügte das Gericht entgegen seiner sonstigen Gepflogenheiten bis zu einer rechtmäßigen Neuregelung eine sofortige Umsetzung folgender Grundsätze:

  • Bis zum Inkrafttreten einer Neuregelung bleibt die mögliche 30-prozentige Leistungsminderung gemäß § 31 a Abs. 1 Satz 1 SGB II mit der Maßgabe anwendbar, dass eine Sanktionierung dann nicht erfolgen muss, wenn dies im konkreten Einzelfall zu einer außergewöhnlichen Härte führen würde.
  • Die gesetzliche Regelung zur Leistungsminderung von 60 % gemäß § 31 Abs. 1 Sätze 2 und 3 SGB II ist bis zu einer Neuregelung nur mit der Maßgabe anwendbar, dass wegen wiederholter Pflichtverletzung eine Leistungsminderung nicht über 30 % des maßgeblichen Regelbedarfs hinausgehen darf und auch hier die Option eines Absehens von der Sanktion wegen einer außergewöhnlichen Härte zu prüfen ist.
  • Die nach dem Gesetz zwingende dreimonatige Dauer des Leistungsentzugs gemäß § 31 b Abs. 1 Satz 3 SGB II ist bis zu einer Neuregelung mit der Einschränkung anzuwenden, dass die Behörde die Leistungen wieder erbringen kann, sobald die Mitwirkungspflicht erfüllt wird oder der Leistungsberechtigte sich ernsthaft und nachhaltig bereit erklärt, diesen Pflichten nachzukommen.

Laut Bundesarbeitsminister Heil soll Urteil auch auf junge Bezieher angewandt werden

Das blieb vor Gericht außen vor: Bei jungen Menschen unter 25 Jahren wäre laut Urteil auch in Zukunft weiterhin härter durchgegriffen worden, denn die hierfür maßgebliche Regelung des § 31a Abs. 2 SGB II war nicht Gegenstand des Verfahrens.

Ebenso waren kleinere Verfehlungen, wie ein verpasster Termin im Jobcenter, die regelmäßig zu Kürzungen von 10 % führen, nicht Gegenstand des des Urteils.

Bundesarbeitsminister Heil hat allerdings verkündet, gehe davon aus, dass das Urteil auch auf die besonders scharfen Sanktionen für junge Arbeitslose unter 25 Jahren anzuwenden sei, denn die Richter hätten die komplette Streichung der Leistungen dem Grunde nach verworfen. Auch lasse er prüfen, welche Auswirkungen das Urteil für die Sanktionierung von Meldeversäumnissen bedeutet.

(BVerfG, Urteil v. 5.11.2019, 1 BvL 7/16)

Anmerkung:

Im Jahr 2018 wurden von den Jobcentern in über 900.000 Fällen Sanktionen verhängt. Der weit überwiegende Teil (über 75 %) betraf Leistungskürzungen von 10 % wegen nicht eingehaltener Termine.

Die Bundesagentur für Arbeit zeigte sich nach dem Urteilsspruch erleichtert. Ein Sprecher sagte, dass kein Mitarbeiter die Sanktionen in der Vergangenheit gerne angewendet habe.

Die Grünen sehen im Urteil einen Etappensieg für die sozialen Grundrechte der Bürgerinnen und Bürger, so ihr sozialpolitischer Sprecher Sven Lehmann. SPD, Grüne und Linke streben eine durchgreifende Reform des gesamten Hartz-IV-Systems an, die Linke plädiert sogar für eine völlige Abschaffung. Die Bundesagentur für Arbeit plädiert ebenfalls für eine Reform. Sie stört sich vor allem an den aufwändigen Einzelfallprüfungen bei Mehrbedarfen, die zu komplizierten Berechnungen mit hohem Verwaltungsaufwand führen würden. Hier seien pauschale Regelungen mit einfachen Berechnungsmodellen sinnvoller. Die Union ist allerdings überwiegend mit dem bisherigen System zufrieden.

Haufe Online Redaktion