Misslungener Zeugenbeweis für den Zugang einer Kündigung
In einem vor dem LAG Niedersachsen im Berufungsverfahren anhängigen Kündigungsrechtsstreit stand die Frage des Zugangs eines Kündigungsschreibens im Zentrum der Auseinandersetzung. Die Arbeitnehmerin bestritt den Zugang der Kündigung in dem von ihr angestrengten Kündigungsschutzverfahren, während die Arbeitgeberseite sich sicher wähnte, den Zugang der Kündigung beweisen zu können.
Kündigungsschutzklage erstinstanzlich erfolgreich
Zur streitigen Frage des Zugangs der Kündigung hatte das erstinstanzlich zuständige ArbG 3 von der Beklagten benannte Zeugen befragt. Diese hatten übereinstimmend bekundet, ein schriftliches Kündigungsschreiben sei der Klägerin in ihrem Büro von dem Geschäftsführer der Beklagten persönlich übergeben worden. Das ArbG war von dem Wahrheitsgehalt der Zeugenaussagen nicht überzeugt und gab deshalb der Kündigungsschutzklage mangels Nachweises des Zugangs der von der Beklagten behaupteten Kündigung statt.
Erfahrungssätze der Aussagepsychologie gelten auch im Arbeitsprozess
Im Berufungsverfahren bestätigte das LAG die erstinstanzliche Entscheidung. Das LAG stellte klar, dass das Gericht gemäß § 286 Abs. 1 ZPO den Inhalt der Verhandlungen und des Ergebnisses einer Beweisaufnahme nach seiner freien richterlichen Überzeugung zu beurteilen hat. Dabei müsse die richterliche Überzeugung mit den Denk-, Natur- und Erfahrungssätzen in Einklang stehen. Wissenschaftliche Erfahrungssätze der Aussagepsychologie beanspruchten nicht nur Geltung in Strafverfahren, sondern seien im arbeitsgerichtlichen Verfahren in gleicher Weise zu berücksichtigen.
Ergebnisorientierte Zeugenaussagen sind eher unglaubhaft
Bei der Analyse der Glaubhaftigkeit einer konkreten Aussage sei nach den allgemein anerkannten Grundsätzen der forensischen Aussagepsychologie von der sogenannten „Null-Hypothese“ auszugehen, d.h., die Glaubhaftigkeit einer Aussage muss positiv begründet werden. Dabei sei die Aussagequalität im Rahmen einer Inhaltsanalyse daraufhin zu überprüfen, ob die Aussage sogenannte „Realkennzeichen“ aufweist oder ob sie eher ergebnisorientiert ist.
Aussagen der Zeugen bis ins Detail übereinstimmend
Im konkreten Fall hatte das erstinstanzliche ArbG nach der Bewertung des LAG zu Recht die erforderlichen „Realkennzeichen“ vermisst. Die Zeugen hätten detailliert nur das Kerngeschehen beschrieben, d.h., wie und wann das Kündigungsschreiben übergeben worden sein soll. So hätten alle Zeugen bestätigt, dass sie gemeinsam mit dem Geschäftsführer das Büro der Klägerin betreten hätten. Sie hätten exakt übereinstimmend geschildert, an welcher Stelle der Geschäftsführer gestanden und wo genau sich die Klägerin befunden habe, als der Geschäftsführer das Kündigungsschreiben auf ihren Schreibtisch gelegt haben soll.
Individuellen Wahrnehmungen der Zeugen zum Randgeschehen fehlen
Demgegenüber habe keiner der Zeugen ein Wort zur Reaktion der Klägerin verloren. Das plötzliche Betreten des Büros einer Arbeitnehmerin durch den Geschäftsführer im Beisein von 3 Zeugen verbunden mit der Übergabe eines Kündigungsschreibens sei in der von den Zeugen geschilderten sachlichen Weise kaum vorstellbar. Die Zeugen hätten lediglich geschildert, dass die Klägerin die persönliche Entgegennahme des Kündigungsschreibens verweigert und der Geschäftsführer das Schreiben auf ihren Schreibtisch gelegt habe. Dass die Klägerin ansonsten keinerlei emotionale oder verbale Reaktion gezeigt habe, sei in dieser Situation nur schwer nachvollziehbar.
Auffällige Übereinstimmungen der Zeugenaussagen im Detail
Im Ergebnis hatte die Vorinstanz nach der Entscheidung des LAG zu Recht Schilderungen der Zeugen zur Reaktion der Klägerin auf die psychisch belastende Situation einer Kündigung vermisst. Zu Recht habe sich die Vorinstanz auch an den bis ins Detail übereinstimmenden Schilderungen der Zeugen zur Position des Geschäftsführers bei der zunächst versuchten persönlichen Übergabe des Kündigungsschreibens und dem anschließenden Niederlegen des Schreibens auf dem Schreibtisch der Klägerin gestört. Aus psychologischer Sicht wiesen die Wahrnehmungen eines Geschehens durch unterschiedliche Personen zumindest im Detail immer auch gewisse Unterschiede auf.
Berufung zurückgewiesen
Unter Anwendung aussagepsychologischer Erkenntnisse hatte das ArbG nach Auffassung des LAG damit zu Recht die Aussagen der Zeugen als zu wenig glaubhaft bewertet, um den Zugang der Kündigung mit der notwendigen Sicherheit nachzuweisen. Da kein Rechtsfehler bei der Beweiswürdigung erkennbar sei, sei es auch nicht erforderlich, zweitinstanzlich in eine erneute Beweisaufnahme einzutreten. Die Berufung gegen das erstinstanzliche Urteil war damit erfolglos.
(LAG Niedersachsen, Urteil v. 26.5.2025, 4 SLa 442/24)
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