LAG Hamm

Kündigung nach online erworbener AU-Bescheinigung ohne ärztliche Untersuchung


Online AU-Bescheinigung ohne ärztliche Untersuchung

Weil die Arbeitsunfähigkeitsbescheinigung unzutreffend suggerierte, es habe eine Fernuntersuchung durch einen Arzt stattgefunden, durfte der Arbeitnehmer fristlos gekündigt werden. Einer Abmahnung bedurfte es aufgrund des schwerwiegenden Pflichtverstoßes laut LAG Hamm nicht.

Der Fall: Arbeitnehmer meldet sich mit Online-Attest krank – Gericht sieht bewusste Täuschung 

Ein IT-Consultant meldete sich im August 2024 für vier Tage als arbeitsunfähig erkrankt. Am dritten Tag der betrieblichen Abwesenheit lud er eine Arbeitsunfähigkeitsbescheinigung im unternehmensinternen System hoch. Diese entsprach optisch weitestgehend dem Vordruck des Musters 1b der Kassenärztlichen Bundesvereinigung für AU-Bescheinigungen in Papierform. 

Das Problem: Die Bescheinigung wurde bei einem Online-Anbieter gegen Entgelt erworben und entsprach in keiner Weise den Vorgaben der §§ 4 und 5 der AU-Richtlinie des Gemeinsamen Bundesausschusses der KBV über die Beurteilung der Arbeitsunfähigkeit. Bei diesen handelt es sich zwar schon von Gesetzes wegen nicht um zwingende Vorgaben. Sie setzen aber den Standard für die valide Feststellung der Arbeitsunfähigkeit. Nach § 4 Abs. 5 S. 1 und 2 der AU-Richtlinie darf die Feststellung der Arbeitsunfähigkeit nur auf Grund einer ärztlichen Untersuchung erfolgen. In der Bescheinigung wurde die Arbeitsunfähigkeit des Arbeitnehmers, angeblich festgestellt aufgrund einer Fernuntersuchung mittels Fragebogen, attestiert. Es hatte aber zu keinem Zeitpunkt irgendeine Art von Untersuchung oder überhaupt ein Kontakt zwischen dem Arbeitnehmer und dem attestierenden Arzt stattgefunden. Es mussten lediglich Symptome in einen Online-Fragebogen eingetragen werden. Bei den attestierenden Ärzten handelt es sich laut den Angaben auf der Homepage des Anbieters um im Ausland tätige Mediziner ohne Zulassung in Deutschland.  

Als dem Arbeitgeber auf Grund von Nachforschungen bezüglich des Ausstellers des Attests die Gesamtumstände bekannt wurden, kündigte dieser dem Mitarbeiter außerordentlich fristlos. 

Entscheidende Frage: War Abmahnung entbehrlich oder nicht? 

Das ArbG Dortmund (Urteil v 8.1.2025, Az. 9 Ca 3671724) gab der Kündigungsschutzklage des Arbeitnehmers mit der Begründung statt, der Arbeitgeber habe als milderes Mittel zunächst eine Abmahnung aussprechen müssen. Der Beweiswert ders AU-Bescheinigung sei zwar erschüttert, allerdings beruhe dies nicht auf einem aktiven Verhalten des Arbeitnehmers während des Arbeitsunfähigkeitszeitraums, sondern auf Verstößen gegen die AU-Richtlinie. Es sei zudem nicht auszuschließen, dass der Arbeitnehmer tatsächlich krank gewesen sei. Der Arbeitgeber habe diese Möglichkeit nicht hinreichend widerlegt.  

Das Berufungsgericht sah dies grundlegend anders. Eine Abmahnung sei wegen der Schwere des Pflichtverstoßes entbehrlich. Die Pflichtverletzung sei derart gravierend, dass für den Arbeitgeber selbst deren erstmalige Hinnahme nach objektiven Maßstäben unzumutbar sei.  

Vertrauensbruch besonders schwerwiegend

Der Arbeitnehmer machte vorliegend geltend, er habe nicht mit Täuschungsabsicht gehandelt. Auch das sah das LAG anders. Der Beklagte habe gewusst, dass das Attest nur einen geringen bis gar keinen Beweiswert habe. Auf der Homepage des Anbieters war explizit aufgeführt, dass man im Falle des Misstrauens des Arbeitgebers besser eine teurere Bescheinigung mit Arztgespräch wählen sollte, da die Variante ohne Arztkontakt vor Gericht nur einen geringen Beweiswert habe. Nach Ansicht des Gerichts hat der Arbeitnehmer dem Arbeitgeber vorliegend bewusst wahrheitswidrig suggeriert, es habe ein Kontakt mit einem Arzt stattgefunden. Insbesondere die Verwendung der Begrifflichkeit „Fernuntersuchung“ spreche für eine Anamnese, die zwar ohne gleichzeitige körperliche Präsenz, jedoch im Wege einer Kommunikation zwischen Arzt und Patient erfolgt ist. 

Der Beklagte habe sich eine AU-Bescheinigung erschlichen, um sich für den Zeitraum der vorgetäuschten Arbeitsunfähigkeit Entgeltfortzahlung gewähren zu lassen. Die hierin liegende Verletzung der arbeitsvertraglichen Rücksichtnahmepflicht aus § 241 Abs. 2 BGB stelle einen besonderen Vertrauensbruch gegenüber dem Arbeitgeber dar. 

Ob Arbeitnehmer tatsächlich arbeitsunfähig war, ist wegen Beweislastumkehr irrelevant  

Anders als für das erstinstanzliche Gericht war für das LAG Hamm die Frage, ob tatsächlich eine Arbeitsunfähigkeit vorlag, nicht entscheidend. 

Zwar habe ein ärztliches Attest grundsätzlich eine hohe Beweiskraft. Diese sei vorliegend aber in einem Maße erschüttert, dass hinsichtlich der Behauptungs- und Beweislast wieder derselbe Zustand eintrete, wie er vor Vorlage des Attests bestand. Es habe somit erneut eine Substantiierungspflicht des Arbeitnehmers hinsichtlich des Vorliegens einer die Arbeitsunfähigkeit bedingenden Erkrankung bestanden. Dieser Substantiierungspflicht sei der Arbeitnehmer allerdings nicht hinreichend nachgekommen.  


Zwei-Wochen-Frist des § 626 Abs. 2 S. 1 BGB wurde eingehalten 

Der Arbeitnehmer machte zudem geltend, der Arbeitgeber habe die Zwei-Wochen-Frist des § 626 Abs. 2 S. 1 BGB nicht eingehalten, indem er treuwidrig durch organisatorische Hürden verhindert habe, dass eine kündigungsberechtigte Person zu einem früheren Zeitpunkt positive Tatsachenkenntnis erlangt hat. Die Kündigung erfolgte vier Wochen nach Eingang der AU-Bescheinigung. Für das LAG waren jedoch, ungeachtet der rechtlichen Wertung, keine Tatsachen erkennbar, die den Vortrag des Arbeitnehmers stützten. Der Arbeitgeber musste vorliegend nämlich zunächst Nachforschungen hinsichtlich des Ausstellers des Attests anstellen, um sichere Kenntnis von den die fristlose Kündigung rechtfertigenden Tatsachen zu erlangen. Die zuständige Abteilung hatte zunächst erfolglos versucht, über den elektronischen Datenaustausch mit der Krankenkasse etwaige elektronische Arbeitsunfähigkeitsbescheinigungen abzurufen. Die genauen Umstände haben sich sodann erst nach eingehender Prüfung der AU-Bescheinigung herauskristallisiert.  


Revisionsgründe nach § 72 Abs. 2 ArbGG sah das Gericht nicht als gegeben an. 


(LAG Hamm, Urteil v. 5.9.2025, Az. 14 SLa 145/25) 



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