Entscheidungsstichwort (Thema)

Durchbrechung der Bindungswirkung bei neuer höchstrichterlicher Rechtsprechung. Überprüfung unanfechtbarer Verwaltungsakte

 

Leitsatz (amtlich)

Wird zu einem bestimmten Sachverhalt ein Leistungsbegehren an einen Träger der gesetzlichen Krankenversicherung gerichtet, so macht der Versicherte damit im Zweifel alle Ansprüche geltend, die ihm aus diesem Sachverhalt gegen den Versicherungsträger zustehen; der Versicherungsträger ist zu umfassender Prüfung der infrage kommenden Ansprüche verpflichtet.

Zur Berücksichtigung einer nach Unanfechtbarkeit eines Ablehnungsbescheids ergangenen höchstrichterlichen Rechtsprechung bei einer Neuprüfung entsprechender Anwendung der RVO §§ 627, 1300 (Ergänzung zu BSG 1967-01-31 2 RU 125/65 = BSGE 26, 89 = SozR Nr 1 zu § 627 RVO und BSG 1968-06-27 4 RJ 41/68 = BSGE 28, 141 = SozR Nr 6 zu § 1300 RVO ).

 

Leitsatz (redaktionell)

1. Die Regelung in RVO §§ 627, 1300, AVG § 79, und RKG § 93, wonach ein Versicherungsträger eine Leistung neu festzustellen hat, wenn er sich bei erneuter Prüfung überzeugt, daß er die Leistung zu Unrecht ganz oder teilweise abgelehnt, entzogen oder eingestellt hat, ist ein das gesamte Recht der deutschen Sozialversicherung beherrschender Wesenszug, von dem das Recht der gesetzlichen Krankenversicherung nicht ausgeschlossen ist.

2. Jedenfalls ist es einer KK verwehrt, auf das erneut gestellte Leistungsbegehren eines Versicherten hin eine erneute Sachprüfung unter Berufung auf die Bindungswirkung ihres früheren Ablehnungsbescheides abzulehnen, wenn sich nach Eintritt der Bindungswirkung entweder die höchstrichterliche Rechtsprechung geändert oder eine solche erst gebildet hat. Die KK braucht den Leistungsanspruch nur zu prüfen, wenn und soweit er noch nicht verjährt ist.

3. Mit den 3 Entscheidungen des BSG (vergleiche BSG 1972-10-20 3 RK 93/71 = SozR Nr 52 zu § 182 RVO und BSG 1972-10-20 3 RK 100/71 = DOK 1973, 123 und BSG 1972-10-20 3 RK 33/72 = DOK 1973, 123) ist eine neue höchstrichterliche Rechtsprechung zum Krankheitsbegriff hinsichtlich Kiefer- und Zahnstellungsanomalien entstanden.

4. Enthält der Verwaltungsakt der KK keine Rechtsbehelfsbelehrung, so endet die Widerspruchsfrist 1 Jahr nach seiner Bekanntgabe.

Die den Trägern der Unfall- und Rentenversicherung obliegende Verpflichtung, eine Leistung neu festzustellen, wenn sie sich bei erneuter Prüfung überzeugt haben, daß sie die Leistung zu Unrecht ganz oder teilweise abgelehnt haben (RVO §§ 627, 1300, AVG § 79 und RKG § 93, gilt sinngemäß auch für die Träger der Krankenversicherung.

 

Normenkette

RVO § 627 Fassung: 1963-04-30, § 1300 Fassung: 1957-02-23; AVG § 79 Fassung: 1957-02-23; RKG § 93 Fassung: 1965-06-09; SGG § 77 Fassung: 1953-09-03; RVO § 223 Abs. 1 Fassung: 1924-12-15, § 182 Abs. 1 Nr. 1 Fassung: 1967-12-21, § 187 Nr. 4 Fassung: 1924-12-15

 

Tenor

Auf die Revision des Klägers wird das Urteil des Schleswig-Holsteinischen Landessozialgerichts vom 26. Oktober 1972 aufgehoben.

Der Rechtsstreit wird zur neuen Verhandlung und Entscheidung an das Landessozialgericht zurückverwiesen.

 

Gründe

I

Der bei der beklagten Krankenkasse pflichtversicherte Kläger begehrt von dieser die Übernahme der Kosten für die kieferorthopädische Behandlung seines Sohnes W.. Bei diesem stellte der Facharzt für Kieferorthopädie Dr. P. aus I "einen Schmalkiefer mit engstehender Protrusion der Oberkiefer- und Unterkieferfront, Drehung von 1/1 mit Diastema, I 5 lt. Röntgenaufnahme gedrehte Keimlage, mes. Vorwanderung und palatinale Drehung von 6, geringer Lückeneinengung für IV V, bei geringem Tiefbiß und geringer Distalbißlage" fest. Im Auftrag des Klägers teilte der Arzt diesen Befund in einem kieferorthopädischen Behandlungs- und Kostenplan vom 5. Februar 1970 der Beklagten mit. Wörtlich wird dort ausgeführt: "Durch diese Anomalie ist das Gebiß in seiner Funktion behindert. Aus gesundheitsfürsorgerischen Gründen ist deshalb eine kieferorthopädische Behandlung erforderlich. Ziel dieser Behandlung ist, beide Kiefer normal zu formen, die Zähne einzuordnen und eine korrekte Okklusion beider Zahnreihen zueinander herzustellen". Die Behandlungsdauer schätzte Dr. P. auf etwa vier Jahre. Die Behandlungskosten sollten sich auf etwa 1.500 DM belaufen, die in den vereinbarten Teilbeträgen beglichen werden sollten. Daraufhin teilte die Beklagte mit Schreiben vom 13. Februar 1970 dem Kläger mit:

"Sehr geehrtes Mitglied!

Wir freuen uns, Ihnen mitteilen zu können, daß wir uns an den Kosten der Zahn- und Kieferregulierung für die Dauer von 4 Jahren, also vom 1.2.1970 bis 31.1.1974 mit einer Beihilfe von monatlich 15,- DM beteiligen. Die Beihilfe soll in Raten jeweils zum Quartalsende durch den behandelnden Arzt unter Vorlage einer Bescheinigung, daß eine Behandlung im abgelaufenen Vierteljahr stattgefunden hat, bei unserer Kasse angefordert werden. Aus der Bescheinigung muß auch hervorgehen, ob die Behandlung weiterhin durchgeführt wird oder abgeschlossen ist.

Da wir immer wieder feststellen müssen, daß die Kieferregulierungen nicht bis zum Ende durchgeführt werden, kann die Beihilfe nur gewährt werden, wenn die Kieferregulierung auch endgültig abgeschlossen wird. Falls die Behandlung vorzeitig abgebrochen wird, müssen die bereits von unserer Kasse bezahlten Beiträge von Ihnen erstattet werden.

Reisekosten werden neben der Beihilfe nicht übernommen.

Unsere Kostenbeteiligung gilt im übrigen nur so lange, als eine Mitgliedschaft bei unserer Kasse besteht und die kieferorthopädische Behandlung durchgeführt wird. Sollte Ihre Tochter (Ihr Sohn) während der Behandlungszeit selbst eine Beschäftigung aufnehmen und dadurch Mitglied einer anderen Kasse werden, wollen Sie uns dieses bitte umgehend mitteilen".

Mit Schreiben vom 20. September 1971 beantragte der Kläger die Feststellung, daß der bei seinem Sohn W. diagnostizierte kieferorthopädische Befund eine Krankheit im Sinne der Reichsversicherungsordnung (RVO) darstelle, die einen Anspruch auf freie zahnärztliche Behandlung gemäß § 182 Abs. 1 Nr. 1 RVO auslöse. In ihrem Bescheid vom 28. Februar 1972 lehnte die Beklagte eine neue Sachentscheidung ab: Ihr Bescheid vom 13. Februar 1970 sei bindend geworden (§ 77 des Sozialgerichtsgesetzes - SGG -), und zwar innerhalb eines Jahres nach Zugang, da er nicht mit einer Rechtsbehelfsbelehrung versehen gewesen sei (§ 66 Abs. 2 SGG). Der Kläger habe auch keinen Anspruch auf eine neue Sachentscheidung, weil zur Frage der Anerkennung von Kieferanomalien als Krankheit noch keine gefestigte Rechtsauffassung bestehe, insbesondere auch eine höchstrichterliche Entscheidung noch nicht ergangen sei.

Widerspruch und Klage sind erfolglos geblieben. Die Berufung des Klägers hat das Landessozialgericht (LSG) mit Urteil vom 26. Oktober 1972 zurückgewiesen: Über den Anspruch des Klägers auf kieferorthopädische Behandlung seines Sohnes W. sei bereits durch den zwischen den Beteiligten bindend gewordenen Bescheid vom 13. Februar 1970 entschieden worden. Dieser Bescheid habe seinem Gegenstand nach auch den Anspruch des Klägers gemäß § 182 Abs. 1 Nr. 1 RVO umfaßt. Der Bescheid lasse auch keinen Zweifel daran, daß es sich um eine abschließende Regelung handeln sollte; für eine Teilregelung fehle im Bescheid jeder Anhaltspunkt. Der Kläger habe auch keinen Anspruch auf eine erneute Sachentscheidung entgegen der Bindungswirkung des Bescheides vom 13. Februar 1970. Die Sach- und Rechtslage habe sich nicht inzwischen erheblich geändert. Auch unter Berücksichtigung der Urteile des Bundessozialgerichts (BSG) vom 20. Oktober 1972 (3 RK 93/71, 100/71 und 33/72) sei es eine Frage des Einzelfalles, ob die Voraussetzungen des Krankheitsbegriffes vorlägen.

Mit der zugelassenen Revision rügt der Kläger die fehlerhafte Anwendung des § 77 SGG. Die Beklagte habe, wenn sie von ihrer Leistungspflicht erfahre, sämtliche Anspruchsgrundlagen auf ihre Begründetheit zu prüfen, und zwar müsse sie zunächst feststellen, ob sie die umfangreichere Leistung des § 182 Abs. 1 Nr. 1 RVO gewähren müsse. Komme sie zu dem Ergebnis, daß die Voraussetzungen dieser Vorschrift nicht vorlägen, aber die des § 187 Nr. 4 RVO, dann dürfe sie in dem Bewilligungsbescheid nicht verschweigen, daß sie die Leistungen aus § 182 RVO nicht gewähren wolle. Daher müsse die Beklagte verurteilt werden, ihren Bescheid auf die Prüfung auszudehnen, ob die Voraussetzungen des § 182 RVO vorlägen.

Der Kläger hat beantragt,

unter Aufhebung der angefochtenen Entscheidung, des Urteils des Sozialgerichts Itzehoe vom 16. Juli 1972 sowie des Bescheids der Beklagten vom 28. Februar 1972 in der Fassung des Widerspruchsbescheides vom 28. April 1972 die Beklagte zu verurteilen, dem Kläger kieferorthopädische Behandlung seines Sohnes W. als Sachleistung zu gewähren.

Die Beklagte hat beantragt,

die Revision zurückzuweisen.

Sie hält das angefochtene Urteil für zutreffend.

II

Die Revision des Klägers ist insofern begründet, als sie zur Aufhebung des angefochtenen Urteils und Zurückverweisung der Sache an die Vorinstanz führt.

Zutreffend ist das LSG davon ausgegangen, daß die Beklagte Krankenkasse dem Kläger mit ihrem Schreiben vom 13. Februar 1970 einen umfassenden Bescheid über ihre Leistungen bei der kieferorthopädischen Behandlung seines Sohnes W. erteilt hat. Wer zu einem bestimmten Sachverhalt einen Leistungsantrag an einen Versicherungsträger richtet, will damit im Zweifel alle Ansprüche geltend machen, die ihm aus diesem Sachverhalt gegen diesen Versicherungsträger zustehen. Das muß erst recht dann gelten, wenn wie im vorliegenden Fall der Krankenkasse nichts weiter als eine Diagnose mit Behandlungs- und Kostenplan ohne ausdrücklichen Antrag vorgelegt wird.

Dementsprechend war die Beklagte verpflichtet, umfassend zu prüfen, welche Leistungen sie bei dem ihr unterbreiteten Sachverhalt zu erbringen hatte. Diese Prüfungspflicht hat sich vor allem auf die von ihr in erster Linie geschuldeten Leistungen der Krankenhilfe (§ 182 RVO) zu erstrecken. Eine Maßnahme "zur Verhütung von Erkrankungen" (§ 187 Nr. 4 RVO), wie sie im vorliegenden Falle von der Beklagten bewilligt worden ist, kann erst ins Auge gefaßt werden, wenn nicht Krankenhilfe zu gewähren ist.

Unter Berücksichtigung dieser Zusammenhänge enthält der Bescheid der Beklagten vom 13. Februar 1970 für den Kläger erkennbar deren Erklärung, daß zur kieferorthopädischen Behandlung seines Sohnes nur die bewilligte Leistung (Beihilfe zu den Kosten) gewährt wird und weitere Leistungen abgelehnt werden. Daß der Bescheid keine Rechtsbehelfsbelehrung enthält, steht seiner Bindungswirkung auch insoweit, als der Anspruch des Klägers abgelehnt wurde, nicht entgegen. Das Fehlen der Rechtsbehelfsbelehrung hatte nur zur Folge, daß die Anfechtungsfrist auf ein Jahr verlängert wurde (§ 66 Abs. 2 SGG; vgl. Urteil des Senats vom 12. Dezember 1972 - 3 RK 68/72 - in SozR, § 66 SGG Nr. 34). Zu Recht hat das LSG hieraus den Schluß gezogen, daß der Bescheid vom 13. Februar 1970 mit seinem den Kläger belastenden Teil nach Ablauf der Anfechtungsfrist bindend geworden ist.

Entgegen der Auffassung des LSG war es jedoch der Beklagten verwehrt, auf das erneut (20. September 1971) gestellte Leistungsbegehren des Klägers hin eine Sachprüfung unter Berufung auf die Bindungswirkung ihres Ablehnungsbescheids abzulehnen. Zwar enthält das Zweite Buch der RVO keine den §§ 627, 1300 RVO, § 79 des Angestelltenversicherungsgesetzes (AVG), § 93 des Reichsknappschaftsgesetzes (RKG) entsprechende ausdrückliche Regelung, wonach ein Versicherungsträger eine Leistung neu festzustellen hat, wenn er sich bei erneuter Prüfung überzeugt, daß er die Leistung zu Unrecht ganz oder teilweise abgelehnt, entzogen oder eingestellt hat (vgl. auch § 40 des Gesetzes über das Verwaltungsverfahren der Kriegsopferversorgung vom 2. Mai 1955 (VwVG) - BGBl I 202 -, wonach die Verwaltungsbehörde zugunsten des Berechtigten jederzeit einen neuen Bescheid erteilen kann (Abs. 1; vgl. zur Verpflichtung der Verwaltungsbehörde, einen der materiellen Rechtslage entsprechenden neuen Bescheid zu erteilen BSG 26, 146) und auf Antrag des Berechtigten ein neuer Bescheid zu erteilen ist, wenn das BSG in ständiger Rechtsprechung nachträglich eine andere Rechtsauffassung vertritt, als der früheren Entscheidung zugrunde gelegen hat (Abs. 2); vgl. für die Arbeitslosenversicherung RVA, GE Nr. 3643 in AN 1933, 59, wo die Berechtigung zur Änderung eines rechtskräftigen Bescheides zugunsten des Arbeitslosen trotz Fehlens einer ausdrücklichen Vorschrift im Gesetz über Arbeitsvermittlung und Arbeitslosenversicherung - AVAVG - unter Hinweis auf die entsprechenden Vorschriften in der Rentenversicherung und der Unfallversicherung daraus abgeleitet wird, daß "diese Vorschriften ... offensichtlich der Niederschlag eines ganz allgemeinen Rechtsgrundsatzes der Sozialversicherung" sind). Dessenungeachtet muß dieser Rechtsgedanke als ein das gesamte Recht der deutschen Sozialversicherung beherrschender Wesenszug angesehen werden, von dem das Recht der gesetzlichen Krankenversicherung nicht ausgeschlossen sein kann (vgl. die o. a. GE des RVA Nr. 3643; vgl. auch Haueisen in NJW 1965, 561, 564). Es ist kein innerer Grund dafür ersichtlich, daß die den genannten Regelungen innewohnende Schutzfunktion im Recht der gesetzlichen Krankenversicherung keinen Platz haben sollte. Insbesondere ließe sich eine solche Ausnahmebehandlung der gesetzlichen Krankenversicherung nicht aus der Unterschiedlichkeit der Leistungen in den Versicherungszweigen ableiten. In der Grundstruktur weist die Krankenversicherung ähnliche Leistungsgruppen auf, wie sie die Träger der anderen Versicherungszweige gewähren, seien es - nach der Zielsetzung beurteilt - Leistungen vorbeugender und heilender Natur, seien es - nach der Art der Leistungen - Geldleistungen oder Sachleistungen, seien es - auf den Zeitraum abgestellt - einmalige, mittelfristige oder relativ langfristige Leistungen. Zum Teil sind die Leistungen der verschiedenen Versicherungszweige eng aufeinander bezogen (vgl. z. B. §§ 182 Abs. 3 ff RVO). Überdies erleichtert gerade im Recht der gesetzlichen Krankenversicherung die dort gültige kurze Verjährungsfrist für Ansprüche auf Kassenleistungen (§ 223 Abs. 1 RVO: 2 Jahre nach dem Tage der Entstehung) die Herstellung eines der materiellen Rechtslage entsprechenden Zustands; denn sie stellt sicher, daß der Versicherungsträger nur Sachverhalte aus einer nicht zu weit zurückliegenden Vergangenheit nachzuprüfen braucht.

Im vorliegenden Fall braucht der Senat abschließend nur die aus dem Gesamtkomplex herausragende besondere Frage zu entscheiden, welchen Einfluß eine nach Unanfechtbarkeit eines Bescheids entwickelte höchstrichterliche Rechtsprechung bei einer Nachprüfung hat. Diese Frage hat besonderes Gewicht, wie die schon erwähnte Hervorhebung dieses Sachverhalts in § 40 Abs. 2 VwVG gegenüber der allgemeinen Regelung in Abs. 1 zeigt. Wie der 2. Senat des BSG in seinem Urteil vom 31. Januar 1967 zu § 627 RVO (BSG 26, 89, 91) näher dargelegt hat, liegt es im Wesen höchstrichterlicher Rechtsprechung, bei der Entscheidung der Streitfälle die Entwicklung allgemeiner Rechtsgrundsätze anzustreben, an die sich untere Instanzen und Verwaltungsbehörden bei der künftigen Behandlung gleichartiger Fälle halten können. Dabei will die Rechtsprechung in ihrer Rechtsanwendung das zum Ausdruck bringen, was auf Grund der maßgeblichen Norm bereits in der Vergangenheit gegolten hat, aber nicht beachtet worden ist. Die auf Grund einer überholten Rechtsauffassung ergangenen Verwaltungsakte hätten somit, hätte die neue höchstrichterliche Rechtsprechung bereits bei Erlaß dieser Verwaltungsakte vorgelegen, diese Rechtsprechung berücksichtigen können und müssen. Dadurch kommt hier - im Unterschied zu einer nicht rückwirkenden Gesetzesänderung - dem Zufallsmoment der jeweiligen Verfahrensdauer eine rechtlich unangemessene Bedeutung zu. Dieses Zufallsmoment auszumerzen, ist einer der wichtigsten Anwendungsbereiche des in §§ 627, 1300 RVO verkörperten Rechtsgedankens.

Dabei spielt es keine Rolle, ob der ursprüngliche Bescheid auf einer älteren höchstrichterlichen Rechtsprechung beruht, die später einen Wandel erfahren hat (so der BSG 26, 89 zugrunde liegende Fall), oder ob sich eine höchstrichterliche Rechtsprechung überhaupt erst nach Unanfechtbarkeit des Erstbescheids gebildet hat (so der Sachverhalt im Urteil des 4. Senats vom 27. Juni 1968 zu § 1300 in BSG 28, 141). Lag zu der strittigen Rechtsfrage bei Erlaß des Bescheids überhaupt noch keine höchstrichterliche Rechtsprechung vor, so besteht erst recht eine Verpflichtung des Versicherungsträgers zur Überprüfung seiner Entscheidung unter Berücksichtigung dieser Rechtsprechung (vgl. Dellinger in "Die Betriebskrankenkasse", Sp. 241, 249; vgl. hierzu auch Schroeder-Printzen in "Die Ortskrankenkasse" 1969, 245, 254). Maßgebend ist dabei der Erkenntnisstand im Zeitpunkt der letzten mündlichen Verhandlung der letzten Tatsacheninstanz (vgl. BSG, Urteil vom 17. Dezember 1971 - 1 RA 245/70 - in SozR, § 1300 RVO, Nr. 13, Aa 17).

Im vorliegenden Falle hatte die Beklagte ihren Erstbescheid im Einklang mit einer überwiegend von den Trägern der gesetzlichen Krankenversicherung praktizierten Rechtsauffassung erlassen, wonach Kieferregulierungen in der Regel als bloße Maßnahmen zur Verhütung von Krankheiten im Sinne des § 187 Nr. 4 RVO anzusehen seien. Diese Auffassung, gestützt auf einen Bescheid des RVA vom 28. Februar 1939 (veröffentlicht in "Die Betriebskrankenkasse" 1939, 169), war zwar längst nicht mehr einhellig, nachdem sich in der Rechtsprechung und der Praxis der Versicherungsträger ein immer stärker funktionsbezogenes Verständnis des versicherungsrechtlichen Krankheitsbegriffs durchgesetzt hatte (vgl. z. B. Bayer. LSG, Urteil vom 6. September 1967, in Breithaupt 1968, 725). Eine höchstrichterliche Rechtsprechung zu dieser Frage gab es jedoch erst mit den drei Entscheidungen des Senats vom 20. Oktober 1972 (3 RK 93/71 in SozR § 182 RVO Nr. 52, 3 RK 100/71, 3 RK 33/72).

Zu Unrecht nimmt das LSG im angefochtenen Urteil an, diese Rechtsprechung habe zu der Frage, ob eine Kieferanomalie als Krankheit zu beurteilen sei oder nicht, keine Änderung gebracht. Mit dieser Rechtsprechung ist vielmehr klargestellt, daß eine Kiefer- oder Zahnstellungsanomalie bei Beeinträchtigung der vom Gebiß anhängigen Körperfunktionen in der Regel behandlungsbedürftige Krankheit darstellt. Dieser Sachverhalt könnte auch beim Sohn des Klägers gegeben sein, wenn man die im Rechtsstreit vorgetragenen Behauptungen als richtig ansieht. Die Beklagte hätte sich - erforderlichenfalls durch einen Hinweis des Gerichts in der letzten mündlichen Verhandlung belehrt - nicht mehr lediglich auf die Bindungswirkung ihres Erstbescheides berufen dürfen, sondern in eine Sachprüfung unter Berücksichtigung der inzwischen ergangenen höchstrichterlichen Rechtsprechung eintreten müssen. Dies wird in dem erneuten Verfahren vor dem LSG nachzuholen sein.

Die Kostenentscheidung bleibt der abschließenden Entscheidung des LSG vorbehalten.

 

Fundstellen

BSGE, 120

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