Tenor

Das Urteil des Landessozialgerichts Baden-Württemberg vom 30. Mai 1961 wird aufgehoben.

Der Rechtsstreit wird zur neuer Verhandlung und Entscheidung an das Landessozialgericht zurückverwiesen.

Von Rechts wegen.

 

Gründe

I

Die 1903 geborene Klägerin, Stenotypistin und kaufmännische Angestellte von Beruf, beantragte im Januar 1955 Ruhegeld wegen Berufsunfähigkeit. Die Beklagte lehnte durch Bescheid vom 5. Oktober 1956 den Antrag ab. Klage und Berufung der Klägerin hatten keinen Erfolg. Das Landessozialgericht (LSG) hielt die Klägerin weder nach altem noch nach neuem Recht für berufsunfähig. Neben organischen Störungen, die ihre Erwerbsfähigkeit nur unwesentlich einschränkten, bestehe zwar eine neurotische Fehlhaltung (Neurose) als abnorme Reaktion einer labilen Persönlichkeit auf ihre Umwelt diese Fehlhaltung, der eine deutliche Rententendenz nicht fremd sei, hemme die Arbeitsfähigkeit der Klägerin; sie habe sich schon so verfestigt, daß die Klägerin durch eigene Willensanspannung die Hemmungen nicht überwinden könne und psychotherapeutische Bemühungen wenig Aussicht auf Erfolg böten; der Zustand sei danach so, daß ihm nach dem Urteil des Bundessozialgerichts (BSG) vom 23. Oktober 1958 (SozR Nr. 11 zu § 1254 der Reichsversicherungsordnung – RVO – aF) „Krankheitswert” zukomme; gleichwohl müsse die Fehlhaltung bei der Beurteilung der Berufsunfähigkeit außer Betracht bleiben, weil sie weder eine Krankheit noch ein Gebrechen noch eine Schwäche körperlicher oder geistiger Kräfte i. S. der §§ 27 des Angestelltenversicherungsgesetzes (AVG) aF, 23 Abs. 2 AVG nF sei. Bei Neurosen komme von vornherein nur eine Wertung als Krankheit in Frage; eine Krankheit seien Neurosen aber in keinem Falle, weder medizinisch noch rechtlich, außer wenn sie schon den Grad einer Psychose angenommen oder organische Veränderungen bzw. eine Gleichgewichtsstörung des Gesamtorganismus herbeigeführt hätten oder wenn es sich um eine Kernneurose mit Umstrukturierung der Persönlichkeit handele. Neurosen seien psychologisch verständliche Reaktionen, getragen von der Vorstellung, krank und arbeitsunfähig zu sein; demzufolge werde die Erwerbsfähigkeit durch sie weder eingeschränkt noch aufgehoben, sondern lediglich gehemmt; die bloße Krankheitsvorstellung könne aber schon begrifflich keine Krankheit sein, selbst wenn sie sich unbewußt vollziehe und unüberwindlich geworden sei. Davon abgesehen könne die Neurose aber auch deshalb nicht als Krankheit im Rechtssinne angesehen werden, weil sie nicht zu den sozialen Tatbeständen gehöre, gegen die die gesetzliche Rentenversicherung schützen wolle. Ihre Berentung widerspreche therapeutischen Gesichtspunkten, fördere oder züchte sozial unerwünschte Erscheinungen und öffne der Ausbeutung der Sozialversicherung durch ängstliche, lebensschwache, unlautere, arbeitsscheue und gewinnsüchtige Elemente Tür und Tor. Aus diesen Gründen sei die Auffassung des BSG (aaO) nicht richtig, daß Neurosen dann eine Krankheit seien, wenn der Versicherte die einer Arbeitsleistung entgegenstehenden Hemmungen nicht mehr überwinden könne, weil ihm eine Erwerbstätigkeit alsdann nicht „zumutbar” sei; der Entwicklungsstand der Neurose dürfe nicht ausschlaggebend sein, weil sonst die Ausdauer in der Fehlhaltung belohnt werde; das BSG trenne auch nicht die Frage nach der Krankheit von der erst später zu prüfenden Zumutbarkeit der Erwerbstätigkeit.

Gegen dieses Urteil legte die Klägerin die vom LSG zugelassene Revision ein mit dem Antrag,

unter Aufhebung der vorangegangenen Entscheidungen die Beklagte, hilfsweise die Beigeladene zur Gewährung von Rente wegen Berufsunfähigkeit bzw. Invalidität ab Januar 1955 zu verurteilen.

Sie rügte eine Verletzung der Vorschriften über die Berufsunfähigkeit.

Die Beklagte und die Beigeladene beantragten die Zurückweisung der Revision.

II

Die Revision ist zulässig (§§ 162 Abs. 1 Nr. 1, 164 des Sozialgerichtsgesetzes – SGG–) und begründet; sie führt zur Aufhebung des angefochtenen Urteils und zur Zurückverweisung des Rechtsstreits an das LSG.

Da die Klage am 1. Januar 1957 bereits rechtshändig gewesen ist, ist die Berufsunfähigkeit der Klägerin für die vorhergehende Zeit nach § 27 AVG aF, für die folgende Zeit nach § 23 Abs. 2 AVG nF zu beurteilen (BSG 8, 31, 33). Nach beiden Vorschriften kommt es darauf an, ob die Arbeitsfähigkeit (§ 27) oder die Erwerbsfähigkeit (§ 23) des Versicherten „infolge von Krankheit oder anderen Gebrechen oder Schwäche seiner körperlichen oder geistigen Kräfte” herabgesunken ist. Das LSG hat geglaubt, eine Einordnung der Neurose unter den Begriff des Gebrechens oder der Schwäche der körperlichen und geistigen Kräfte komme von vornherein nicht in Betracht; ob das richtig ist, kann dahinstehen; die Neurose ist in gleicher Weise erheblich, wenn sie jedenfalls eine Krankheit im Sinne der genannten Bestimmungen ist; das hat das LSG zwar auch verneint; seiner Auslegung des Krankheitsbegriffs vermag der Senat jedoch nicht zu folgen.

Wiederholt hat das BSG entschieden (Urteile vom 23. Oktober 1958 und vom 16. März 1962, SozR Nr. 11 und 15 zu § 1254 RVO aF und Urteil vom 7. April 1964, SozR Nr. 38 zu § 1246 RVO), daß Neurosen auch dann eine Krankheit im Sinne des Rentenversicherungsrechts darstellen können, wenn sie die Grade und Folgen, wie sie das LSG bezeichnet hat, noch nicht erreicht haben. Dabei ist nicht entscheidend, ob die medizinische Wissenschaft die jeweilige „Neurose” für eine Krankheit hält; ausschlaggebend ist allein, ob ihr rechtlich die Eigenschaft einer Krankheit zukommt. Insoweit ist es zwar richtig, daß die bloße Vorstellung einer Krankheit noch keine Krankheit ist, während die Bewertung als „Reaktion” über die Krankheitseigenschaft (über den „Krankheitswert”) nichts besagt; das LSG hat aber nicht festgestellt, daß die Klägerin nur an eine Krankheit glaubt; nach seinen – allerdings summarischen – Feststellungen ist die Arbeitsfähigkeit der Klägerin durch seelische Störungen so „gehemmt”, daß die Klägerin die Hemmungen aus eigener Kraft nicht überwinden kann; der Zustand geht also über eine „bloße Krankheitsvorstellung” hinaus. Seelische Störungen, die die Arbeits- und Erwerbsfähigkeit in einer vom Betroffenen selbst nicht zu überwindenden Weise „hemmen”, sind aber eine Krankheit im Sinne der §§ 27 AVG aF, 23 Abs. 2 AVG nF. Der Krankheitsbegriff dieser Vorschriften kann nicht auf die Beeinträchtigung der Gesundheit im körperlichen und geistigen Bereich beschränkt werden; er umfaßt auch die seelischen (seelisch bedingten) Störungen, wenn sie – wie körperliche und geistige Gesundheitsstörungen – durch Willensentschlüsse des Betroffenen nicht oder nicht mehr zu beheben sind. Dabei ist es ohne Bedeutung, ob die seelischen Störungen eine Fähigkeit, wie die Arbeits- oder Erwerbsfähigkeit, „lediglich hemmen” oder sie „einschränken oder aufheben”; in jedem Falle ist die Fähigkeit im maßgebenden Zeitpunkt beeinträchtigt, weil der Betroffene sie nicht entfalten kann.

Daß diese Betrachtungsweise des Krankheitsbegriffs gerade im Rahmen der Vorschriften über die Berufsunfähigkeit und Erwerbsunfähigkeit geboten ist, hat der 4. Senat in dem Urteil vom 23. Oktober 1958 (SozR Nr. 11 zu § 1254 RVO aF) zutreffend damit begründet, daß nicht zu erkennen sei, wie einem zur Überwindung seiner seelischen Hemmungen aus eigener Kraft unfähigen Versicherten die Verrichtung einer Erwerbstätigkeit noch zugemutet werden könne. Damit ist nicht die Zumutbarkeit einer bestimmten Erwerbstätigkeit (§ 23 Abs. 2 Satz 2 und 3 AVG) gemeint; vielmehr sollte gesagt werden, daß der Gesetzgeber einem Versicherten, der weder an einer Krankheit noch an einem Gebrechen noch einer Kräfteschwäche leidet – also dem gesunden Versicherten – die Ausübung einer Erwerbstätigkeit „zumutet”, bei seelischen Störungen, die aus eigener Kraft nicht überwunden werden können, für eine solche „Zumutung” jedoch kein Raum mehr ist; wenn diese Störungen die Erwerbsfähigkeit des Betroffenen beeinträchtigen, gehören sie – wie die körperlichen und geistigen Gesundheitsstörungen – daher durchaus zu den „sozialen Tatbeständen”, gegen deren nachteilige Auswirkungen die gesetzliche Rentenversicherung schützen will.

Eine andere Beurteilung lassen auch die weiteren Erwägungen des LSG nicht zu. Sie sind sämtlich allgemeiner Art und wenden sich, wie im Urteil des 4. Senats vom 7. April 1964, SozR Nr. 38 zu § 1246 RVO, dargelegt ist, im Grunde an den Gesetzgeber; das gilt vor allem für die therapeutischen und sozialpolitischen Bedenken gegen die „Berentung” von Neurosen. Im übrigen verkennt das LSG aber auch die Gefahren einer „Ausbeutung” der Sozialversicherung, wie sich aus folgendem ergibt:

Einem „Neurotiker” darf Rente wegen Berufsunfähigkeit für einen bestimmten Zeitraum nur gewährt werden, wenn zur Überzeugung des Gerichts zunächst einmal feststeht, daß seelisch bedingte Störungen in dem fraglichen Zeitraum tatsächlich vorhanden sind, wenn der Betroffene sie aus eigener Kraft nicht überwinden kann und wenn die Störungen die Erwerbsfähigkeit in dem in den §§ 27 AVG aF, 23 Abs. 2 AVG nF genannten Maße mindern. Es scheiden also alle vorgetäuschten „Störungen” (Simulation, Aggravation) und die nur gelegentlich – etwa nur bei ärztlichen Untersuchungen zu beobachtenden, sonst aber nicht vorhandenen Störungen aus; das gleiche gilt für die Störungen (Hemmungen), die der Betroffene bei der ihm zuzumutenden Willensanspannung selbst sogleich oder doch bald (innerhalb eines halben Jahres – vgl. § 53 Abs. 1 AVG) überwinden kann; schließlich bleiben alle Störungen außer Betracht, die – zusammen mit den anderen Gesundheitsstörungen – die Arbeits- und Erwerbsfähigkeit des Versicherten nicht in dem vom Gesetz vorausgesetzten Maße beeinträchtigen. Dabei ist noch besonders auf die Beweisanforderungen und die objektive Beweislast hinzuweisen. Der erkennende Senat schließt sich insoweit der Auffassung des 4. Senats (Urteil vom 7. April 1964 – 4 RJ 283/60 – SozR Nr. 38 zu § 1246 RVO) an, daß die „Simulationsnähe” zahlreicher Neurosen bei der Feststellung der anspruchsbegründenden Tatbestandsmerkmale einen strengen Maßstab fordert; für ihr Vorhandensein, also für das tatsächliche Vorliegen von seelischen (seelisch bedingten) Störungen, ihre Unüberwindbarkeit aus eigener Kraft und ihre Auswirkungen auf die Arbeits- und Erwerbsfähigkeit trifft den Rentenbewerber die (objektive) Beweislast; es geht demnach zu seinen Lasten, wenn das Gericht trotz sorgfältiger Ermittlungen und bei gebotener kritischer Würdigung der Verfahrensergebnisse Vortäuschung der Störungen, Überwindbarkeit der Störungen oder Unerheblichkeit der Störungen für die Berufsfähigkeit nicht ausschließen kann.

Nicht richtig ist, daß die Rechtsprechung des BSG die „Ausdauer in der Fehlhaltung belohne” und diejenigen Versicherten begünstige, die „lediglich die Auffassung vertreten”, sie könnten ihren Lebensunterhalt aus Leistungen der Versichertengemeinschaft bestreiten. Dieser – mangels konkreter Feststellungen im vorliegenden Fall – allgemeine Einwand kann nur solche Versicherten treffen, die Störungen vorgeben. Soweit eine Vortäuschung während des für die Rentengewährung in Frage kommenden Zeitraums nicht auszuschließen ist, kann dabei auf die obigen Ausführungen verwiesen werden; eine „Berentung” scheidet hier ohne Zweifel aus. Wie zu entscheiden ist, wenn ein Versicherter nur ursprünglich zum Zwecke der Rentenerlangung Störungen vorgetäuscht hat, sein Verhalten dann aber im Laufe der Zeit der willkürlichen (bewußten) Einwirkung entglitten und nun aus eigener Kraft nicht mehr abzustellen ist, kann dahingestellt bleiben, da der Sachverhalt zu dieser Erwägung keinen Anlaß bietet. In einem solchen Falle bietet möglicherweise die entsprechende Anwendung der §§ 54 Abs. 1 AVG, 1277 Abs. 1 RVO einen ausreichenden Schutz.

Nicht zutreffend ist ferner die Befürchtung, eine Neurose sei auch dann „zu berenten”, wenn die Rentengewährung die Aufrechterhaltung des sonst verschwindenden neurotischen Zustandsbildes bewirke. Wenn im konkreten Einzelfalle eine solche „Prognose” zuverlässig gestellt werden kann – wenn also gesagt werden kann, daß die Ablehnung der Rente bei dem betroffenen Versicherten die neurotischen Erscheinungen ohne weiteres verschwinden läßt – dann muß die Rente (mindestens für die Zukunft) versagt werden, weil es mit dem Sinn und Zweck der Rentengewährung bei Berufsunfähigkeit unvereinbar ist, daß gerade die Rentengewährung den Zustand aufrechterhält, dessen nachteilige Folgen sie ausgleichen soll.

Bei seiner Befürchtung einer „Ausbeutung” der Sozialversicherung hat das LSG schließlich auch die Vorschriften über die Maßnahmen zur Erhaltung, Besserung und Wiederherstellung der Erwerbsfähigkeit (§§ 13 AVG ff) und über die Rentengewährung auf Zeit (§ 53 AVG) zu wenig beachtet (vgl. hierzu Urteil des 4. Senats vom 7. April 1964, SozR Nr. 38 zu § 1246 RVO). Ob und inwieweit gerade die sog. Rehabilitationsmaßnahmen (Heilbehandlung, Berufsförderung und soziale Betreuung), die im Ermessen des Versicherungsträgers liegen, nach dem Willen des Gesetzgebers jedoch vor einer Rentengewährung grundsätzlich Vorrang halsen sollen, „neurotische” Einschränkungen (Hemmungen) der Erwerbsfähigkeit wirksam beheben können, ist zwar noch nicht ausreichend bekannt. Soweit das aber der Fall ist, kann jedoch auch auf diese Weise der Berentung von Neurosen, zumindest einer dauernden Rentengewährung wirksam entgegengewirkt werden.

Unter diesen Umständen sieht der Senat jedenfalls keinen Anlaß, den Krankheitsbegriff der Rentenversicherung bei Neurosen einzuschränken. Dieser umfaßt seelische (seelisch bedingte) Störungen, die der Versicherte – auch bei zumutbarer Willensanspannung – aus eigener Kraft nicht überwinden kann. Das von der gegenteiligen Auffassung ausgehende Urteil des LSG verletzt das Gesetz; es ist daher aufzuheben.

In der Sache selbst kann der Senat nicht entscheiden, weil die tatsächlichen Feststellungen für ein abschließendes Urteil über die Berufsunfähigkeit der Klägerin von Januar 1955 an nicht ausreichen. Die „Hemmungen” der Klägerin sind vom LSG nicht näher bezeichnet worden, vorgetäuschte Störungen bleiben mindestens zum Teil denkbar; ob die Hemmungen seit Januar 1955 bestehen, seitdem für die Klägerin stets überwindlich waren und ob sie im gesamten Zeitraum die Erwerbsfähigkeit der Klägerin auf die Hälfte einer gesunden Vergleichsperson gemindert haben, steht nicht hinreichend fest; hierzu muß das LSG noch nähere Feststellungen treffen.

Der Rechtsstreit ist daher an das LSG zur neuen Verhandlung und Entscheidung (auch über die Kosten des Revisionsverfahrens) zurückzuverweisen.

 

Unterschriften

Dr. Haueisen, Dr. Schwarz, Dr. Buss

 

Fundstellen

BSGE, 189

MDR 1964, 960

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