Leitsatz (amtlich)

Zur Frage der groben Fahrlässigkeit beim Verstoß gegen eine Einzelanordnung zur Unfallverhütung gemäß § 712 RVO.

 

Normenkette

RVO § 640

 

Verfahrensgang

OLG Stuttgart (Urteil vom 23.11.1982)

LG Tübingen

 

Tenor

Die Revision des Beklagten gegen das Urteil des 6. Zivilsenats des Oberlandesgerichts Stuttgart vom 23. November 1982 wird zurückgewiesen.

Die Kosten der Revision fallen dem Beklagten zur Last.

Von Rechts wegen

 

Tatbestand

Die Klägerin, eine Berufsgenossenschaft, verlangt vom Beklagten, der ein Säge-, Hobel- und Spaltwerk betreibt, aus § 640 RVO Ersatz der aus Anlaß des Arbeitsunfalls ihres Versicherten R. vom 27. November 1979 zu erbringenden Aufwendungen. R., der seit April 1978 als Hilfsarbeiter beim Beklagten beschäftigt war, war am Unfalltag an einer Untertischkappkreissäge eingesetzt. Als er ein im Schneidebereich liegen gebliebenes Schwartenstück entfernen wollte, betätigte er – abgelenkt durch neues Sägematerial, das über den Rollengang anlief – versehentlich den Fußschalter, worauf das rotierende, bislang versenkte Sägeblatt aus der Versenkung herausschnellte und ihm die linke Hand abtrennte. Die Hand konnte wieder angenäht werden; sie ist jedoch, in ihrer Funktion beeinträchtigt.

Die Sägemaschine (Baujahr 1964) entsprach den ab Juli 1963 gültigen Unfallverhütungsvorschriften. Am 1. April 1977 waren jedoch strengere Unfallverhütungsvorschriften in Kraft getreten, die für Untertischkappkreissägemaschinen u. a. die großflächige Verdeckung der gesamten Schneideebene vorschreiben (§ 53 VGB 7 j vom 1. April 1977). Für bereits bestehende Anlagen galt indes nach § 61 der allgemeinen Vorschriften (VBG 1) eine Umrüstungsfrist von 3 Jahren.

Am 22. Mai 1979 hatte ein technischer Aufsichtsbeamter der Klägerin den Betrieb des Beklagten besichtigt. Aufgrund dieser Besichtigung hatte die Klägerin – gestützt auf § 712 Abs. 1 Satz 2 RVO – dem Beklagten durch Revisionsbericht vom 5. Juli 1979 u. a. aufgegeben, die Untertischkappkreissägemaschine „mit Einrichtungen auszurüsten, die während des Werkzeugvorschubes ein Hineingreifen in die Schneideebene vermeiden”. Die dafür in Betracht kommenden Maßnahmen hatte die Klägerin im einzelnen bezeichnet. Zum Vollzug der Anordnung hatte sie dem Beklagten eine Frist von drei Monaten – gerechnet ab 22. Mai 1979 – gesetzt. Der Beklagte hat diese Frist nicht eingehalten; er hat die Umrüstung der Maschine erst am Tag nach dem Unfall durchführen lassen. Die Umrüstungsarbeiten dauerten etwa ein bis zwei Stunden und kosteten etwa 350 DM.

Die Klägerin hat den Beklagten auf Zahlung ihrer bisherigen unfallbedingten Aufwendungen in Anspruch genommen und die Feststellung der zukünftigen Ersatzpflicht des Beklagten begehrt. Sie hat ihm vorgeworfen, den Unfall durch grobe Fahrlässigkeit verschuldet zu haben. Der Beklagte habe nicht nur ihre Anordnung nicht befolgt, sondern auch deshalb schuldhaft gehandelt, weil er R. an der Sägemaschine eingesetzt habe, obwohl R. geistig behindert und für eine solche Tätigkeit völlig ungeeignet gewesen sei. Außerdem habe es der Beklagte unter Verstoß gegen § 7 Abs. 2 VBG 1 versäumt, R. darüber zu belehren, welche Gefahren bei der Tätigkeit an der Untertischkappkreissägemaschine aufträten und wie sie abzuwenden seien.

Der Beklagte hat seine Haftung in Abrede gestellt. Er hat geltend gemacht, die Sägemaschine habe den zur Zeit des Unfalls geltenden Unfallverhütungsvorschriften entsprochen; die strengeren neuen Vorschriften hätten wegen der dreijährigen Umrüstungsfrist im Unfallzeitpunkt noch nicht gegolten. Die Anordnung der Klägerin sei unwirksam, weil sie unter Verstoß gegen die Umrüstungsfrist des § 61 VBG 1 die neuen strengeren Unfallverhütungsvorschriften vorwegnehme. Zumindest habe er nicht grob fahrlässig gehandelt. Ihm sei nicht bewußt gewesen, daß von der Maschine, die seit vielen Jahren ohne einen Zwischenfall im Einsatz gewesen und von R. vor dem Unfall monatelang ohne Anstände bedient worden sei, eine besondere Gefahr ausgehe. Der Unfall beruhe auf einem groben Bedienungsfehler, mit dem er nicht habe rechnen können oder müssen.

Das Landgericht hat dem Zahlungsantrag dem Grunde nach stattgegeben und die Verpflichtung des Beklagten zur Erstattung der weiteren unfallbedingten Aufwendungen festgestellt. Die Berufung des Beklagten blieb ohne Erfolg. Mit der Revision verfolgt der Beklagte seinen Antrag auf Klageabweisung weiter.

 

Entscheidungsgründe

I.

Nach Auffassung des Berufungsgerichts schuldet der Beklagte der Klägerin aus § 640 Abs. 1 RVO Ersatz für sämtliche Leistungen, die sie R. infolge des Betriebsunfalls erbringen muß. Hierzu stellt das Berufungsgericht fest, daß die Untertischkappkreissägemaschine zwar den bisherigen, nicht aber den neuen strengeren Unfallverhütungsvorschriften entsprochen habe. Dem Beklagten sei jedoch die Umrüstung der Maschine nach Maßgabe der neuen Vorschriften sowohl anläßlich der Revision am 22. Mai 1979 durch den technischen Aufsichtsbeamten der Klägerin als auch im Revisionsbericht der Klägerin vom 5. Juli 1979 rechtswirksam aufgegeben worden. Zu dieser Anordnung sei die Klägerin nach § 712 Abs. 1 Satz 2 RVO befugt gewesen. Die Umrüstungsfrist von drei Jahren habe der Wirksamkeit der Anordnung nicht entgegengestanden; wegen der inzwischen erkannten besonderen Unfallgefahr, die von der Maschine ausgegangen sei, habe es die Klägerin im Fall des Beklagten ebenso wie in anderen gleichgelagerten Fällen für geboten erachten dürfen, die generell gewährte Umrüstungsfrist im Wege einer Einzelanordnung abzukürzen.

Es sei – so fährt das Berufungsgericht fort – davon auszugehen, daß der Unfall vermieden worden wäre, wenn der Beklagte diese Anordnung befolgt und die Maschine mit einem Schutzgitter ausgestattet hätte. Er habe nicht zuletzt auch aufgrund der Hinweise des Aufsichtsbeamten die von der Maschine ausgehenden Gefahren für das Bedienungspersonal gekannt. Damit habe er dadurch, daß er es unterlassen habe, die Maschine innerhalb der gesetzten Frist umzurüsten, grob fahrlässig im Sinne des § 640 Abs. 1 RVO gehandelt. Die angeordnete Umrüstung sei dem Beklagten mit einem nur geringen Aufwand an Zeit und Kosten innerhalb der festgesetzten Frist möglich gewesen.

II.

Diese Erwägungen halten den Angriffen der Revision stand.

1. Die Revision hat keinen Erfolg mit ihrer Rüge, der Unfall, der durch eine willkürliche Handlung des Verletzten (Griff in den Schneidebereich) ausgelöst worden sei, hätte sich in gleicher Weise auch dann ereignet, wenn die später eingebaute Sicherheitsvorkehrung bereits im Unfallzeitpunkt vorhanden gewesen wäre; auch das den neuen Vorschriften entsprechende Schutzgitter habe die Gefahrenzone nicht vollständig abgedeckt.

Die Argumentation des Berufungsgerichts läßt Rechtsfehler, die das Ergebnis in Frage stellen, nicht erkennen. Es kann auf sich beruhen, ob das Berufungsgericht ohne Einholung eines Sachverständigengutachtens befugt war, über die nach seiner Ansicht praktisch unfallausschließende Wirkung des Schutzgitters zu befinden. Denn jedenfalls durfte das Berufungsgericht nach den Regeln des Beweises des ersten Anscheins davon ausgehen, daß der Unfall darauf zurückzuführen ist, daß es der Beklagte unterlassen hat, die Maschine innerhalb der Frist, die ihm die Klägerin gesetzt hatte, mit einem solchen Gitter auszurüsten.

a) Die Kreissägemaschine entsprach im Zeitpunkt des Unfalls zwar den alten, nicht aber den neuen Unfallverhütungsvorschriften. Für den Beklagten waren indes nach Maßgabe der Anordnung der Klägerin die neuen Unfallverhütungsvorschriften verbindlich. Bei dieser Anordnung handelte es sich um einen Verwaltungsakt der Klägerin (vgl. Lauterbach, Unfallversicherung, 3. Aufl., § 712 Anm. 4). Dieser Verwaltungsakt beruhte auf § 712 Abs. 1 Satz 2 RVO als Ermächtigungsgrundlage. Die Tragfähigkeit dieser Ermächtigungsgrundlage wird nicht – wie die Revision meint – dadurch infrage gestellt, daß § 61 VEG 1 für die neuen Unfallverhütungsvorschriften eine Übergangsfrist von drei Jahren gewährt. Dies folgt schon aus dem Normenverhältnis. § 61 VBG 1 kann als Satzungsrecht nicht § 712 RVO als höherrangiges Bundes-Gesetzesrecht modifizieren. Das ergibt sich im übrigen auch aus dem Text der Vorschrift selbst. Sie gewährt die Übergangsfrist von drei Jahren, „soweit nicht anderes bestimmt ist”. § 712 Abs. 1 Satz 2 RVO, der den Berufsgenossenschaften die Ermächtigung erteilt, „im Einzelfall Anordnungen zur Durchführung von Unfallverhütungsvorschriften” zu treffen, bestimmt aber etwas anderes.

Der Verwaltungsakt der Klägerin läßt – abgesehen davon, daß er bestandskräftig geworden ist – auch keine Rechtsmängel erkennen. Er erging zur Durchführung der seit dem 1. April 1977 geltenden neuen Unfallverhütungsvorschriften. Dabei hat die Klägerin weder das Willkürverbot mißachtet, noch den Verhältnismäßigkeitsgrundsatz verletzt. Grund für das Vorgehen der Klägerin, das im praktischen Ergebnis im Streitfall allerdings zu einer Verkürzung der im Satzungsrecht vorgesehenen dreijährigen Übergangsfrist geführt hat, war die in der Zwischenzeit erkannte besondere Unfallträchtigkeit dieses Sägentyps. Dies rechtfertigte die Anordnung der Klägerin.

b) Ist aber davon auszugehen, daß der Beklagte gegen die neuen Unfallverhütungsvorschriften, die für ihn kraft eines rechtmäßigen Verwaltungsakts der Klägerin verbindlich geworden waren, verstoßen hat, so gilt für die Kausalitätsfrage der Anscheinsbeweis. Nach der ständigen Rechtsprechung des Senats, die auf die Rechtsprechung des Reichsgerichts zurückgeht, wird bei einem Verstoß gegen Unfallverhütungsvorschriften prima facie vermutet, daß es bei Beachtung der Schutzvorschrift nicht zu der Verletzung gekommen wäre, wenn sich – wie hier – in dem Unfall gerade die Gefahr verwirklicht hat, deren Eintritt die Vorschrift verhindern wollte (vgl. z. B. Senatsurteile vom 29. März 1960 – VI ZR 84/59 – VersR 1960, 614 f.; vom 3. Februar 1970 – VI ZR 177/68 – VersR 1970, 344 f.; vom 25. Januar 1983 – VI ZR 92/81 – VersR 1983, 440; vgl. ferner Steffen in BGB-RGRK, 12. Aufl., § 823 Rdn. 520 m.w.N.).

Das Berufungsgericht hat festgestellt, daß es dem Beklagten nicht gelungen ist, diesen Anscheinsbeweis zu erschüttern. Seine Begründung, die allgemeine Behauptung des Beklagten, der Unfall habe sich auch bei rechtzeitiger Anbringung eines den neuen Vorschriften entsprechenden Schutzgitters ereignet, sei unzureichend, läßt einen revisionsrechtlich relevanten Fehler nicht erkennen. Zwar hatte der Beklagte stets vorgetragen und unter Beweis gestellt, daß der Verletzte auch bei Verdeckung der Schneideebene in den Schneidebereich hätte hineingreifen und gleichzeitig den Fußschalter auslösen können. Dies reicht indes zur Erschütterung des Anscheinsbeweises nicht aus. Vielmehr hätte der Beklagte dartun müssen, daß die Auslösung des Fußschalters auch dann, wenn ein Schutzgitter angebracht gewesen wäre, ebenso wie beim Fehlen des Gitters in den natürlichen Bewegungsablauf gepaßt hätte, zu dem es kam, als der Verletzte durch das neue Sägematerial abgelenkt wurde. Dies aber hat der Beklagte nicht behauptet und unter Beweis gestellt.

2. Es ist rechtlich auch nicht zu beanstanden, daß das Berufungsgericht zu dem Ergebnis gelangt, der Beklagte habe grob fahrlässig gehandelt, weil er die Umrüstung der Maschine nicht innerhalb der gesetzten Frist durchgeführt habe.

a) Die Entscheidung, ob sich ein verstoß gegen Unfallverhütungsvorschriften objektiv und subjektiv als grobe Fahrlässigkeit darstellt, ist nach der ständigen Rechtsprechung des Senats grundsätzlich dem. Tatrichter vorbehalten, der im Einzelfall unter Würdigung aller Umstände nach seinem pflichtgemäßen Ermessen darüber zu befinden hat. Seine Entscheidung ist daher der Nachprüfung durch das Revisionsgericht entzogen, sofern das Berufungsgericht nicht den Rechtsbegriff der groben Fahrlässigkeit verkannt oder seiner Entscheidung fehlerhaft gewonnene Feststellungen zugrunde gelegt hat (vgl. BGH, Urteile vom 21. Oktober 1980 – 71 ZR 265/79 – VersR 1981, 75; vom 16. November 1982 – VI ZR 78/81 – VersR 1983, 156 f. und vom 5. Dezember 1983 – II ZR 252/82 – VersR 1984, 281, 283).

Daß das Berufungsgericht von fehlerhaft gewonnenen Feststellungen ausgegangen sei, ist weder ersichtlich noch macht die Revision dies geltend. Es läßt sich auch nicht feststellen, daß das Berufungsgericht den Rechtsbegriff der groben Fahrlässigkeit verkannt hat.

b) Mit Recht hat das Berufungsgericht die grobe Fahrlässigkeit des Beklagten nicht allein mit der Verletzung der – für ihn kraft der besonderen Anordnung verbindlich gewordenen – neuen Unfallverhütungsvorschriften begründet. Der Senat hat stets betont, daß nicht jeder Verstoß gegen die einschlägigen Unfallverhütungsvorschriften schon als ein grob fahrlässiges Verhalten im Sinne des § 640 RVO zu werten ist (vgl. Senatsurteile vom 8. Oktober 1968 – VI ZR 164/67 – VersR 1969, 39, 40; vom 22. Juni 1971 – VI ZR 39/70 – VersR 1971, 1019, 1020; vom 21. Oktober 1980 aaO). Ebenso stellt nicht jede Nichtbefolgung einer Anordnung, die in Vollzug von Unfallverhütungsvorschriften ergeht, für sich schon eine schwere Verletzung der Sorgfaltspflicht im Sinne einer groben. Fahrlässigkeit dar. Vielmehr ist auch dann, wenn solche Verstöße gegen die Sorgfaltsgebote vorliegen, bei Anwendung des § 640 RVO eine Wertung des Verhaltens des Schädigers geboten, in die auch die weiteren Umstände des Einzelfalles einzubeziehen sind.

c) Eine solche Wertung hat das Berufungsgericht vorgenommen. Es hat festgestellt, daß dem Beklagten als langjährigem und erfahrenem Sägewerksbesitzer, der überdies noch von dem Aufsichtsbeamten der Klägerin belehrt worden war, bekannt war, daß die bisherigen Sicherheitseinrichtungen der Maschine kaum geeignet waren, ein Hineingreifen in die Schneideebene zu verhindern. Ferner war ihm – wie das Berufungsgericht weiter feststellt – durch die Hinweise des Aufsichtsbeamten bekannt, daß es jüngste Erfahrungen geboten erscheinen ließen, die alten Maschinen vorzeitig nach Maßgabe der neuen Sicherheitsvorschriften umzurüsten. Dies wurde ihm unter konkreter Bezeichnung der erforderlichen Maßnahmen durch die Anordnung der Klägerin vom 5. Juli 1979 zusätzlich zur mündlichen Anordnung des Aufsichtsbeamten unter Fristsetzung aufgegeben. Wenn der Beklagte trotz dieser Aufforderungen in Kenntnis der mit der bisherigen Ausrüstung der Maschine verbundenen Gefahren für das Bedienungspersonal die fristgerechte Umrüstung der Maschine unterließ, konnte das Berufungsgericht ohne Rechtsfehler dieses Verhalten als grob fahrlässig werten.

 

Unterschriften

Scheffen, Dr. Kullmann, Dr. Ankermann, Dr. Lepa, Dr. Werp

 

Fundstellen

Haufe-Index 845498

Nachschlagewerk BGH

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