Agile Führung in selbstgesteuerten Teams
Das Wort "Transformation" kommt aus dem Lateinischen und ist damit sehr alt. Doch es wurde meiner Wahrnehmung nach selten so oft verwendet wie heute. Alles ist ständig im Wandel. Auch unsere Arbeitswelt. Globalisierung, Digitalisierung, demografischer Wandel und der wahrnehmbare Wertewandel in der Gesellschaft sind die Treiber. Die Auswirkungen auf die betriebliche Praxis sind sehr unterschiedlich. Der Trend geht aber eindeutig hin zu einer Arbeitsgesellschaft, die ihr Umfeld gestaltet und steuert.
Ein Stichwort, das in diesem fortlaufenden Prozess wichtig ist, lautet Agilität. Die Entwicklung von neuen Innovationsmethoden und Managementpraktiken wie Design Thinking, Scaled Agile Framework und agilen Arbeitsmodellen zielt auf ein kreatives, disruptives Denken ab. Es ist gleichzeitig der Versuch, mit den umfangreichen, komplexen und wechselnden Rahmenbedingungen in der heutigen Vuka-Welt umzugehen. Umso entscheidender für den Erfolg einer Transformation ist das Vorleben durch Führungskräfte. Sie erkennen in der Regel frühzeitig den Transformationsbedarf von Prozessen, Strukturen und ganzen Geschäftsmodellen, treiben Veränderungen wesentlich an und begleiten diese.
Was ist agile Führung?
Aber natürlich sind Führungskräfte auch selbst vom Wandel betroffen. In diesem Zuge müssen sie die Art der Führung neu interpretieren. Hier setzt das Konzept "Agile Leadership" an, das ich seit Jahren verfolge. Agil zu führen bedeutet, klassische Denkmuster, hierarchische und abteilungsbezogene Strukturen sowie standardisierte Vorgehen zu durchbrechen. Das Konzept schafft damit eine neue Form der Organisation und Kultur, die von Vertrauen, Transparenz, Kooperation und Kollaboration geprägt ist. Dies soll gerade der jungen Generation oder bestimmten Beschäftigungsgruppen ermöglichen, flexibel, selbstbestimmt und eigenverantwortlich zu arbeiten und sich selbst zu verwirklichen.
Ein Umdenken in der Führung ist meiner Erfahrung nach vor allem für Konzerne notwendig, deren Fokus auf einer hohen Innovationsrate und Kostendruck liegt. Durch die Ergänzung agiler Führungsansätze an den Stellen, wo klassische Führung an ihre Grenzen kommt, sichern sie die Stabilität und auch die Zukunftsfähigkeit des Unternehmens. Der Agile-Leadership-Ansatz bietet auch Organisationen selbst Vorteile: eine schnellere Anpassung an Veränderungen, mehr Innovationen, effizientere Entscheidungsprozesse, gesteigerte Mitarbeiterbeteiligung und -motivation. Diese Vorteile zeigen sich insbesondere bei virtuellen oder hybriden Teams, da der Ansatz es Führungskräften erleichtert, über die Distanz hinweg einen klaren Rahmen für Vertrauen, Motivation und Austausch zu schaffen.
Selbstgesteuerte Teams führen
Für Führungskräfte wird es immer wichtiger, das operative Tagesgeschäft den Teams zu überlassen und sich Zeit für Entwicklungsarbeit einzuräumen. Dazu gehört aus meiner Sicht: eine inspirierende Vision und klare Ziele zu entwickeln, eine Arbeitsatmosphäre zu schaffen, die von Vertrauen, Transparenz und einer positiven Fehlerkultur geprägt ist, sich stärker als bisher mit den Wünschen und Bedürfnissen der Mitarbeitenden auseinanderzusetzen, agile Praktiken zu erlernen und achtsame Kommunikation zu fördern, hoch qualifizierte Mitarbeitende einzustellen und zu entwickeln, Teams sinnvoll zusammenzusetzen sowie Teams zu enablen und empowern, mehr Verantwortung zu übernehmen.
Mit dieser Entwicklungsarbeit verbunden ist die persönliche Weiterentwicklung: Veränderung geht schließlich alle etwas an. Dazu gehört einerseits, sich den eigenen agilen Führungswerten bewusst zu werden. Sie orientieren sich an den Werten aus dem Scrum Framework wie Offenheit, Mut, Respekt, Commitment und Fokus, beziehen aber auch die individuellen Werte jedes Einzelnen mit ein. Andererseits bedeutet Agile Leadership, je nach Situation in verschiedenen Rollen führen zu können: als Unternehmerin und Unternehmer, Change Agent, Koordinatorin und Koordinator, Coach und Kommunikatorin und Kommunikator.
Führung auf mehrere Schultern verteilen
Wie sich stärkeres Engagement bei der Teamentwicklung auswirken kann, sehe ich immer wieder: Mitarbeitende kommen motivierter zur Arbeit, kündigen seltener, sind produktiver und steigern den Profit stärker.
Ein Großteil aller Führungskräfte tut sich jedoch noch immer schwer, ihre Teams zu befähigen, mehr Verantwortung zu übernehmen. Das kann damit erklärt werden, dass Führung komplex und zeitintensiv ist. Sie müssen in der Lage sein, die Gegensätze der Stabilität und Flexibilität unter einen Hut zu bringen und beidhändig zu führen – klassisch und agil. Nur dann können sie effizient Gewinne erzielen und Innovationen vorantreiben. Es kann daher sinnvoll sein, die umfangreichen Führungsaufgaben auf mehrere Schultern zu verteilen. Zahlreiche Unternehmen haben bereits begonnen, die fachliche und disziplinarische Führung zu trennen. So sind Product Owner in agilen Teams beispielsweise für die Lieferung qualitativ hochwertiger Produkte zuständig, während sich die disziplinarische Führungskraft auf die Weiterentwicklung der Mitarbeitenden konzentriert. Dazwischen gibt es aber auch Mischformen.
Ich habe jedoch schon häufig erlebt: Ohne entsprechendes Hintergrundwissen und falsch umgesetzt, kann verteilte Führung bei Managerinnen und Managern das Gefühl des Statusverlusts auslösen. Daher ist es wichtig, ihnen eine Perspektive aufzuzeigen, wie sie ihre Rolle sinnvoll gestalten können. Auf diesem Weg wird nicht nur ihre eigene Motivation, sondern auch die der Mitarbeitenden gesteigert und die Zukunft des Unternehmens aktiv und hochdynamisch mitgestaltet. Gute Erfahrung habe ich mit der Selbsteinschätzung mittels Leadership-Canvas gemacht ( siehe hier). Es unterstützt Führungskräfte dabei, den eigenen Auftrag zu klären. Basierend auf den Ergebnissen der Standortbestimmung wird ein Zielbild für die künftige Führungsrolle entwickelt. Dies geschieht in enger Zusammenarbeit zwischen Führungskräften, Beraterinnen sowie Beratern und identifizierten Stakeholdern wie beispielsweise der HR-Abteilung. Davon abgeleitet werden modulartige Lernprogramme für die Führungskräftebefähigung entwickelt: Schulungen zu agilen Frameworks, Simulationen mit der Lego-Serius-Play-Methode oder Coachings zu Fragetechniken etwa.
Agile Unternehmen brauchen Selbstorganisation
Führung in einem komplexen, digitalen und innovativen Arbeitsumfeld seitens Geschäftsführung und Topmanagement so zu gestalten, wie ich beschrieben habe, ist der erste Schritt hin zu mehr Selbstorganisation. Denn es fördert eine bestimmte Persönlichkeit und ein Mindset. Mehr Selbstorganisation zu ermöglichen heißt erstens, Mitarbeitende bezüglich des eigenen Umfelds wie auch der Unternehmensgeschicke entscheiden zu lassen, und zweitens, den Staffelstab der Führung bei Bedarf blitzschnell weiterzureichen.
Doch wie bringt man Individuen dazu, ein Team zu werden und ein Team dazu, agil und selbstorganisiert zu arbeiten? Diese Erfahrung mache ich seit meinem Wechsel als selbstständige Beraterin und Trainerin für Projektmanagement zur Führungskraft bei der Management- und IT-Beratung MHP vor fünf Jahren. Damals habe ich die Leitung eines achtköpfigen, homogenen Teams übernommen, das Kunden durch die agile Transformation dabei unterstützt, digitale Produkte effektiv an den Markt zu bringen. Mittlerweile sind wir 35 Mitglieder und in jeder Hinsicht divers zusammengesetzt – darauf haben wir beim Recruiting bewusst geachtet. Wir haben einen ausgeglichenen Anteil an Männern und Frauen zwischen 20 und 50 Jahren, mit eher untypischen Lebensläufen und verschiedenen Persönlichkeiten, die sowohl Voll- als auch Teilzeit beschäftigt sind. Die Spannbreite reicht von Betriebswirten über Wirtschaftspsychologen und -wissenschaftlern bis hin zu Softwareentwicklern. Die eine hat in ihrem Leben schon in zehn Ländern gelebt und kocht gerne, der andere spielt Wasserball und besucht Heavy-Metal-Festivals. Als Führungskraft all die Facetten einer Persönlichkeit wahrzunehmen und wertzuschätzen, führt meiner Meinung nach dazu, dass Teams (remote) erfolgreicher zusammenarbeiten.
Rollen, Werte und Ziele in selbstgesteuerten Teams
Aus meiner Sicht ist es wichtig, dass sich ein Team bewusst Zeit für die Entwicklung von Rollen, Werten und Zielen nimmt. Denn nur ein motiviertes Team, das die Ausrichtung kennt und den Weg dorthin gemeinsam gestaltet, wird ein echtes High-Performance-Team für das gesamte Unternehmen und für Kunden. Wir führen daher etwa alle fünf Jahre einen Teamentwicklungsworkshop durch und visualisieren die wichtigsten Botschaften am Ende auf unserem Team Canvas. Ein Team Canvas ist eine tolle Möglichkeit für bestehende und neue Teammitglieder, sich intensiv mit Visionen, Zielen, Werten, Aufgaben, Rollen und Stärken auseinanderzusetzen sowie den Zusammenhalt und das Vertrauen in der Gruppe zu fördern. Zusätzlich machen wir zu Beginn jeden Jahres einen Auftaktworkshop, in dem wir unsere Ziele, angelehnt an den Vorgaben des Unternehmens, für ein Jahr festlegen und auf die einzelnen Quartale herunterbrechen. Solche Workshops schaffen die Voraussetzung dafür, Rollen besser zu definieren und auszugestalten sowie als Team selbstorganisiert zu arbeiten.
Als Führungskraft achte ich in diesem Zusammenhang darauf, dass wir solche Workshops überhaupt machen, behalte den übergeordneten Blick auf Unternehmensstrategie, Marktentwicklungen und Trends sowie die Stimmung im Team und gebe allenfalls Impulse. Die Moderation, das Agenda-Setting und die Durchführung von Workshops liegt alleine bei den Teammitgliedern und wechselt regelmäßig. Auch die Ergebnisse der Workshops werden anschließend selbstständig von den Mitgliedern umgesetzt.
Natürlich sind bei MHP insgesamt verschiedene Rollen vorgesehen, etwa People Counselor oder Owner für bestimmte (Unter-)Themen. Diese haben wir teilweise für unser Team übernommen, aber nie ohne zu hinterfragen, ob die Rollen für unsere Vorhaben wirklich sinnvoll sind. Um das herauszufinden, nutzen wir beispielsweise das Teamrollenmodell nach Meredith Belbin und erstellen Learning Journeys.
Neben mir sind inzwischen vier Kolleginnen und Kollegen als People Counselor für personelle und kommunikative Themen verantwortlich. Bedeutet, Themen wie Organisationsstrukturen, Personaleinsatz, Weiterentwicklung der Teammitglieder und Effizienzpotenziale liegen bewusst nicht nur bei mir, sondern sind gleichberechtigt auf mehrere Schultern verteilt.
Bei den Ownern achten wir darauf, dass einzelne Mitglieder diese Rolle nur vorübergehend repräsentieren. So stellen wir sicher, dass kein Hierarchiedenken entsteht. Viel lieber nutzen wir die Objectives-and-Key Results-Methode (OKR). Die Methode schließt die Lücke zwischen Strategie und Umsetzung und folgt einer gemeinsamen Vision. Das Objective ist ein qualitatives Strategieziel für einen bestimmten Zeitraum, das Key Result beschreibt einen angestrebten Messwert, der zur Erreichung eines Objectives führt. Vorteil der Methode ist die Transparenz, dass sich ein Team gemeinsam ausrichten kann, dass Fortschritte schnell sichtbar werden und sie situativ anpassbar ist. Außerdem werden Objectives und Key Results nur für ein Quartal oder Jahr aufgestellt und wechseln dann wieder – und damit auch ihr Owner. Wer der jeweilige Owner ist, entscheiden wir gemeinsam von Vorhaben zu Vorhaben und auf Basis des Microtemplates "Who is who", das auf persönlicher Ebene die Ziele, Werte und Stärken einzelner Teammitglieder aufzeigt.
Selbstorganisation, Standards und Routinen
Bei aller Selbstorganisation ist es meiner Erfahrung nach wichtig, gewisse Standards zu setzen und Routinen zu entwickeln und diese langfristig beizubehalten. Dazu gehören Tools wie ein Miro-Board zur Dokumentation und eine Datenbank zum Wissensmanagement. Aber auch unser einstündiges Teammeeting für den sozialen Austausch und unsere "Community of Practice" für den fachlichen Austausch, die beide jeweils einmal in der Woche stattfinden, sind hier zu nennen. Letztere findet bewusst ohne mich als Führungskraft statt, um dem Team einen sicheren, hierarchiefreien Raum zu ermöglichen.
Grundsätzlich liegt mir die psychologische Sicherheit im Team sehr am Herzen. Gerade in selbstorganisierten Teams, bei denen es viel um Präsentationen, Workshops und aktive Beteiligung geht, kann es beispielsweise zu einem Ungleichgewicht zwischen introvertierten und extrovertierten Mitgliedern kommen. Genau solche Themen haben wir mithilfe eines TPS-Fragebogens ("Team Psychological Savety") identifiziert und in lokalen Kleingruppen besprochen. Ähnliches haben wir in einer "Anxiety Party" gemacht, um uns zu Themen wie Angst vor Kundengesprächen und Unwohlsein in Konfliktsituationen auszutauschen und in Rollenspielen zu üben. Einen offenen, vertrauensvollen Rahmen zu schaffen, die Inhalte gut zu mischen und auch unangenehme Themen anzustoßen, verstehe ich wiederum als meine Aufgabe als Führungskraft beziehungsweise Coach.
Die Führungskraft als Servant Leader
Mein Verständnis von Führung in der Selbstorganisation ist eng mit dem Konzept "Servant Leadership" von Robert Greenleaf verbunden. Dabei geht es darum, im Interesse und Wohlergehen der Teammitglieder zu führen und gleichzeitig Entscheidungsmacht abzugeben. Den Mitarbeitenden zu dienen, macht sich bei mir etwa dadurch bemerkbar, dass ich im Sinne aller Dokumente ablege und Ordner pflege – ohne mir für solche Aufgaben zu schade zu sein. Was mir zu diesem Führungsstil verholfen hat, war unter anderem die Erkenntnis, dass ich zwar aufgrund meines Alters und meiner Vorerfahrung einen gewissen Expertenstatus habe, aber als Führungskraft nicht auf alles eine Antwort haben muss. Es fängt also manchmal mit der für Führungskräfte so schwierigen Aussage "Ich weiß es nicht" an und geht damit weiter, die richtigen Fragen zu stellen und Impulse zu geben. So kommt das Team auf eigene Lösungsansätze. Im Grunde bin ich also dazu da, dass andere einen exzellenten Job machen können. Diesem Verständnis übergeordnet ist ein hoher Qualitätsanspruch an meine und unsere Arbeit, der im komplexen transformativen Umfeld auch notwendig ist.
Ich verfolge das Konzept der Teilung von Verantwortung im selbstorganisierten Team nun bereits seit fünf Jahren und bin überzeugt, dass es fester Bestandteil moderner Organisationen sein sollte und entscheidend für den unternehmerischen Erfolg ist. Der beste Beleg ist, dass ich als Führungskraft mein Arbeitspensum mehrere Monate stark reduzieren konnte – bei gleichbleibender Performance im Team und einem für die Beratungsbranche so wichtigen und bei uns sensationell gutem KPI: eine Auslastungsrate von über 75 Prozent.
Dieser Beitrag ist erschienen in neues lernen, Ausgabe 5/2024, das Fachmagazin für Personalentwicklung. Lesen Sie das gesamte Heft auch in der App personalmagazin - neues lernen.
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