Werte-Charta für Automatisierungsprozesse erarbeitet

Automatisierte Arbeitsprozesse, von Dark Factories bis Chatbots, bringen Erleichterung und erweitern menschliche Fähigkeiten, führen aber auch zur Substitution von Arbeitsplätzen. Die Werte-Charta der Initiative "Human Friendly Automation" will Leitplanken für eine Automation setzen, die die Folgen für Mitarbeitende in den Blick nimmt. Initiator Lars Schatilow im Interview.

Haufe Online-Redaktion: Herr Schatilow, Sie haben die "Human Friendly Automation"-Werte-Charta erarbeitet, die am "Human Friendly Automation Day" am 21. September vorgestellt wurde. Was steckt hinter der Idee dieser Charta?

Lars Schatilow: Das Thema Automation bringt eine neue Dimension in die Arbeitswelt, in den IT-Bereich, die es so zuvor nicht gab. Die letzten 30 Jahre war es vorherrschend, dass Mitarbeitende für neu eingeführte Technologien geschult wurden. Das zunehmende Level der Automation bringt jetzt eine neue Herausforderung, die persönliche Neuerfindung. Denn es wird zu Substitutionen von Arbeitsplätzen kommen. Nehmen wir etwa den Schaffner im Zug, den wird es nicht mehr brauchen, genauso wenig den Zugführer.

Was aber häufig fehlt: Die Frage danach, was mit den Menschen dahinter passiert, wenn deren Arbeitsplätze wegfallen. Es geht darum, Mitarbeitende weiterzubilden und ihnen neue Jobs anzubieten. Wir müssen das Thema als Wertedialog führen, interdisziplinär, auch außerhalb der IT. Um solche Werte für die Automation herauszuarbeiten, hat sich die Charta-Gruppe zusammengetan, etwa 20 Personen aus verschiedenen Institutionen, plus das Institut für Sozialforschung München. Zwölf Monate lang gab es intensive Dialoge, teilweise alle zwei bis drei Wochen, basierend auf Impulsvorträgen aus diversen IT-Projekten. 

Die Automation-Charta hat einen normativen Anspruch

Haufe Online-Redaktion: Wie ist denn die Charta aufgebaut?

Schatilow: Es gibt vier große Wertepaare: "Menschlichkeit und Autonomie", "Offenheit und Transparenz", "Entfaltung und Befähigung" sowie "Ganzheitlichkeit und Langfristorientierung". In Anlehnung an das agile Manifest wurden die Wertepaare spezifiziert durch Prinzipien, immer im Duktus "wichtiger als", zum Beispiel beim Wertepaar "Menschlichkeit und Autonomie": "Namen, Gesichter und Geschichten sind wichtiger als Prozesse, Kennzahlen und Geschäftspläne". Das bedeutet nicht, dass Prozessorientierung und Zahlen nicht wichtig sind – sie sind sogar sehr wichtig. Aber der normative Anspruch der Werte-Charta ist es, immer nach dem Menschen zu fragen. Wir gehen davon aus, dass dadurch ein anderer "Spin" entsteht. 

Haufe Online-Redaktion: Wie wollen Sie es denn schaffen, dass sich Unternehmen zur Charta bekennen?

Schatilow: Rückenwind bekommen wir einerseits von der betrieblichen Mitbestimmung, die solche Automatisierungsprojekte kritisch prüft. Ein zweiter, externer Faktor hat mit dem Green Deal zu tun. Unternehmen sind verpflichtet, die ESG-Kriterien, Environment, Social und Governance, einzuhalten. Rating-Agenturen prüfen dann, welche Auswirkung eine Innovation auf Mitarbeitende hat und vergeben dementsprechende Social Scores. Im Bereich Umwelt sieht man, wie das gehandhabt wird. Negative Folgen für Gesellschaft und Beschäftigte durch Automation zu vermeiden, wird für HR daher in den nächsten Jahren ein Riesenthema sein. 

Die Charta braucht eine Relevanz für die Unternehmenspraxis

Haufe Online-Redaktion: Wenn die Charta abstrakte, normative Vorgaben macht – wer übersetzt und überprüft die Standards dann in der Praxis?

Schatilow: Es wird nicht funktionieren, dass Unternehmen einfach auf der Corporate-Ebene Werte abändern. Aber es geht darum, eine kritische Auseinandersetzung anzustoßen. Organisationen sollen sich fragen, wo sie die Charta integrieren können. Wir hatten auch überlegt, ob es eine Art Verpflichtung geben soll. So weit wollten wir aber nicht gehen. Wir haben uns eher am agilen Manifest orientiert. Wir wollen darauf setzen, dass die Werte der Charta in den Unternehmen ohne Zwang Einzug halten und zur Anwendung kommen. Dafür braucht die Charta aber eine gewisse Bekanntheit.

HR ist in der Verantwortung, das in die Hand zu nehmen, eine Wertediskussion in den Organisationen anzustoßen und den Blick auf den Menschen hinter aller Automatisierung zu richten. So kann die Charta und ihr Wertegerüst eine Relevanz erhalten. Und wenn sich Unternehmen dann nicht an diesen Werten orientieren, werden sie sicher kritisch beäugt werden, zum Beispiel von den Gewerkschaften.

Haufe Online-Redaktion: Können Sie denn Beispiele aus der Praxis nennen, wie die Charta in die Praxis übersetzt wird, etwa aus ihrer Unternehmenserfahrung bei IBM? 

Schatilow: Wir hatten ein Projekt in Zusammenarbeit mit dem IT-HR-Lead in England, der Technologien in den HR-Bereich bringt. Es ging um die Automatisierung des globalen Payroll-Systems. Früher waren dort auch Mitarbeitende im Servicecenter für manuelle Prozesse beschäftigt, jetzt funktioniert es vollautomatisiert. In unserem Projekt wurde den Mitarbeitenden gemäß dem Wertepaar "Offenheit und Transparenz" der Automatisierungsprozess ehrlich kommuniziert, im Modus von Prinzip Nummer 6: "Ehrlichkeit über eine offene Zukunft ist wichtiger als utopische Versprechungen". Das heißt konkret: Man gaukelt ihnen keine verheißungsvolle Zukunft vor, im Sinne von: "Der langweilige, repetitive Job fällt weg, dir stehen nur noch kreative Jobs bereit", sondern kommuniziert klar und zeitnah: "Deine Tätigkeit wird es so nicht mehr geben". Dabei bleibt es aber nicht. Laut dem Wertepaar "Entfaltung und Befähigung“ sollen die Beschäftigten die Möglichkeit bekommen, Prozesse mitzugestalten, neue Arbeitsfelder zu erkunden oder Lernangebote für ein Upskilling, zu erhalten. Mitarbeitende müssen auch sehen können, wo im Unternehmen neue Jobs vorhanden sind. Bei IBM gibt es hierfür transparente interne Jobmärkte.

Automation: HR muss nach den Mitarbeitenden fragen

Haufe Online-Redaktion: Wie wichtig ist die Rolle von HR im Automatisierungsprozess?

Schatilow: HR muss sich unbedingt mit den Automatisierungsprozessen beschäftigen und frühzeitig die Frage nach dem Menschen, den Gesichtern dahinter, stellen und kommunizieren. Was bedeutet die Automation für deren berufliche Identität, deren Freundschaften oder kollegiale Einbindung, deren finanzielle Situation und Reputation? Wo könnten sich die Mitarbeitenden weiterentwickeln, wo sind jeweilige Stärken und Schwächen? Sich mit diesen Themen zu beschäftigen, ist Aufgabe von HR. Es ist ein Gestaltungsauftrag, für den wir sensibilisieren wollen. 

Haufe Online-Redaktion: HR soll als Auffangmechanismus Weiterbildung ermöglichen. Welche Rolle kommt den Beschäftigten selbst zu?

Schatilow: Beschäftigte haben auch eine gewisse Selbstverpflichtung, für Veränderungen offen zu sein, Neues zu erkunden und auch Zeit für Weiterbildung zu investieren. Wenn diese Werte von Arbeitgeberseite geachtet werden, bedeutet das, man gibt frühzeitig Bescheid, dass der Job endet, und schafft dabei Möglichkeiten, eine neue Aufgabe zu finden, die interessiert und Freude macht. Wenn ein Mitarbeiter oder eine Mitarbeiterin sich aber partout nicht verändern möchte, wird es schwierig. 

Haufe Online-Redaktion: Angenommen die Umqualifizierung scheitert nicht am Willen von Beschäftigten, sondern etwa, weil keine Möglichkeit zur Weiterbildung besteht oder die Neuausrichtung zu tief in die Berufsidentität eingreifen würde, – nehmen wir hier Ihr Anfangsbeispiel: Kann ein Herzblut-Schaffner als Data Scientist erfolgreich und glücklich werden? Ist das Grundprinzip der Charta "Mensch ist wichtiger als Prozesse" in so einem Fall realistisch umsetzbar?

Schatilow: Die Charta ist kein Gesetz und keine Einzelfalllösung für Unternehmen. Sie ist auch bewusst abstrakt gehalten, um Raum für Interpretation und Dialog zu lassen. In diesem Fall muss abgewägt werden: Stellt sich nur eine Person entgegen und die anderen Beschäftigten gehen den neuen Weg? Wenn ich in meinem Team bleiben kann, weiterhin eine Arbeitsstelle mit vielleicht ein bis zwei neuen Kolleginnen und Kollegen habe und mich nur weiterbilden muss, dann ist das eine zumutbare, tragbare Veränderung. Dafür muss man kein Automationsprojekt stoppen.

Ob in jedem Fall, hier im Beispiel des Schaffners, die Charta realistisch umsetzbar ist – das kann ich Ihnen nicht beantworten, aber man kann es zumindest berücksichtigen. Es geht darum, als Führungskraft Interesse für die Bedürfnisse aufzubringen, möglichst passende Alternativen zu finden und Empathie zu zeigen. Das ist auch schon von großem Wert, auch wenn man die Stelle nicht retten kann.

Nähere Informationen zum Hintergrund und Inhalt der Charta finden Sie hier


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