Warum wir Leitbilder brauchen

Führen und Folgen sind die Grundlage gelingender Zusammenarbeit. Doch ihre Voraussetzungen unterliegen dem Wandel. Unser Kolumnist Randolf Jessl beleuchtet diesmal die Frage: Was bringt ein Führungsleitbild?

Wenn ich etwas aus unserem Managementsprech und Instrumentenkasten streichen würde, dann wäre es das "Führungsleitbild". Das Instrument ist nicht nur aus der Zeit gefallen, sondern wird auch nicht der Sache gerecht, die es beschreiben soll: nämlich wie Führung im Unternehmen gelebt werden und gelingen soll.

Deshalb kurz zum zweiten Aspekt: Wie ich nicht müde werde in dieser Kolumne zu betonen, ergibt "führen" ohne "folgen" keinen Sinn. Das eine Wort trägt das andere schon in sich – so wie "senden"  auch "empfangen", "lehren" auch "lernen" und "leben" auch "sterben" beinhaltet. Und das gilt umso mehr, wenn wir uns das damit ausgedrückte Verhalten ansehen. Wenn da eine führt, braucht es mindestens einen der folgt. Und wenn wir uns Gedanken machen, wie wir führen wollen, geht das nicht ohne Überlegungen dazu, wie wir folgen wollen.

Kein Führen ohne Zusammenarbeit

Daher plädiere ich dafür, zumindest vom Leitbild "Führung und Zusammenarbeit" zu sprechen. Treffender wäre sogar ein Leitbild "Führen und Folgen" auszurufen, was aber ungute, falsche Vorstellungen weckt. Denn Folgen wird immer noch mit "Hacken zusammenschlagen" und "unreflektiert umsetzen" assoziiert.

Nun zum zweiten Aspekt: "Führungsgrundsätze für Führungskräfte" auszurufen und blumig an die Wand zu pinnen, stellt in Zeiten von New Work, Empowerment und Augenhöhe zudem eine Form der Infantilisierung von Mitarbeitenden dar. Sie befeuert die erlernte Hilflosigkeit von Menschen, die "geführt werden müssen", um Leistung zu zeigen, ihr Potenzial zu entfalten, den Sinn und Zweck ihrer Tätigkeit zu entdecken und vieles mehr.

Das kann nun wirklich nicht der Anspruch sein – auch wenn es viele Führungskräfte gibt, die gerade darin die größte Herausforderung ihres Führungsjobs erkennen … woran wahrscheinlich auch das Führungsleitbild und das dahinterstehende Welt- und Menschenbild schuld sind.

Mitarbeitendenleitbild als Ergänzung

Wer Führung von Menschen als Auftrag an eine Führungselite im Unternehmen deklariert, muss sich nicht wundern, wenn er Menschen anzieht und erzieht, die sich zurücklehnen und bei allem und jedem "nach Führung rufen". Dabei ist "Führung zu wichtig, um sie nur Führungskräften zu überlassen", wie die Berater und Buchautoren ("Das kollegial geführte Unternehmen"; Vahlen, 2016) Bernd Oestereich und Claudia Schröder so treffend formulieren.

Eine schöne Variation des klassischen Führungsleitbilds, die ich häufig weiterempfehle, hat der Berliner Wirtschaftspsychologe Carsten C. Schermuly in seinem Buch "New Work Utopia" (Haufe, 2022) vorgestellt. Was im Führungsleitbild aus Sicht des Leaders gedacht ist, dreht er in einem "Mitarbeitendenleitbild" um 180 Grad und beschreibt die zugehörigen Verhaltensanker aus Mitarbeitenden-Sicht. Hier eine Kostprobe:

  • Sinnstiftung aus Leader-Perspektive: "Du erklärst den Sinn von Arbeitsaufgaben und hilfst den Kollegen, eine attraktive Zukunftsvision zu entwickeln." Und aus Mitarbeitenden-Perspektive: "Du gehst aktiv auf die Suche nach dem Sinn in deiner Arbeit … Du fragst nach dem Warum und bemühst dich, darauf eigene Antworten zu geben."
  • Arbeitsgestaltung aus Leader-Perspektive: "Du bietest verantwortungsvolle Aufgaben an … handelst als Makro- und nicht als Mikromanagerin … und baust bürokratische Hürden ab." Und aus Mitarbeitenden-Perspektive: "Du übernimmst Verantwortung für dich und andere … Du wartest nicht, bis Probleme auftreten, sondern handelst vorausschauend."
  • Entwicklung aus Leader-Perspektive: "Du hilfst deinen Kollegen, jeden Tag besser zu werden … gibst regelmäßig Feedback." Und aus Mitarbeitenden-Perspektive: "Du klärst, was du kannst und was nicht … und versuchst, deine Stärken zu stärken."
  • Vorbild aus Leader-Perspektive: "Du agierst authentisch und aufrichtig, lebst vor, was du von anderen einforderst." Und aus Mitarbeitenden-Perspektive: "Du handelst aufrichtig … und lebst vor, was du auch von einem Leader erwartest."

Der Effekt des Ganzen: Mitarbeitende werden ernst und für voll genommen. Es wird ganz klar, dass Zusammenarbeit Führen und Folgen, ein Geben und Nehmen sowie aktives Gestalten auf beiden Seiten bedeutet. Von hier ist der Schritt zu verteilter Führung, bei der das Führen und Folgen unter den Beteiligten beständig wechselt, dann nicht mehr weit. Wann pinnen also Sie das erste kombinierte Führungs- und Mitarbeitendenleitbild bei sich in den Konferenzraum?

Randolf Jessl ist Inhaber der  Kommunikations- und Leadershipberatung Auctority. Er berät, trainiert und coacht Menschen und Organisationen an der Schnittstelle von Führung, Kommunikation und Veränderungsanliegen. Zusammen mit Prof. Dr. Thomas Wilhelm hat er bei Haufe das Buch "Shared Leadership" veröffentlicht.