Thyssenkrupp Steel Europe AG: Humanisierung der Arbeitswelt

Während viele Organisationen im Verlauf der Coronapandemie ein "neues Normal" ausrufen, behält die Thyssenkrupp Steel Europe AG bewusst den Krisenmodus bei. Auch die Produktion bekommt neue Aufmerksamkeit, erläutert Markus Grolms, Arbeitsdirektor und Personalvorstand.

Personalmagazin: Auf viele Organisationen wirkte die Pandemie wie ein Innovations- und Transformationsbooster. Wie war das bei ThyssenKrupp Steel Europe?

Markus Grolms: Sehr ähnlich. Auch bei uns besaß niemand ein Drehbuch für diese Corona-Apokalypse. Keiner wusste, wie wir unseren Betrieb organisieren sollten. Und ich finde, im Nachhinein müssen wir Unternehmen uns schon fragen, wieso es eigentlich eine Pandemie brauchte, um unsere Art des Arbeitens grundlegend zu verändern.

Personalmagazin: Wie hat sich Ihr Unternehmen im Krisenmodus geschlagen?

Grolms: Zu Beginn waren wir im Krisenmanagement gut, aber fürchterlich ineffizient. Wir sind dann relativ schnell in einen Modus übergegangen, der die Pandemie nicht als temporäre Krise, sondern Teil unseres Alltags begreift. Wir haben Arbeitsformen etabliert, die wir entweder der Faktenlage und den Umgebungsbedingungen anpassen -  oder diese verwerfen können, sofern sie sich als untauglich erweisen. Trotz der veränderten Bedingungen haben wir unseren Betrieb aufrechterhalten und in Spitzenzeiten 3500 Menschen im Pandemieoffice arbeiten lassen. Wir haben einen kontinuierlichen Verbesserungsprozess in einer Dimension hingelegt, der uns selbst überrascht hat.

Zu Beginn waren wir im Krisenmanagement gut, aber fürchterlich ineffizient. Wir sind dann relativ schnell in einen Modus übergegangen, der die Pandemie nicht als temporäre Krise, sondern Teil unseres Alltags begreift. - Markus Grolms

Die Krise als Ausnahmezustand anerkennen

Personalmagazin: Lautete so der offizielle Begriff - Pandemieoffice?

Grolms: Ja, aus mehreren Gründen. Erstens ist keiner freiwillig in diesen Modus gewechselt. Zweitens haben wir gesehen, dass die HR-Community ziemlich schnell auf den Zug aufgesprungen ist. Wenn man einmal bewiesen habe, dass das Büro tot sei, so der Gedanke, gibt es kein Zurück mehr in die Welt vor Corona – also lasst uns mal schnell eine Betriebsvereinbarung schließen! Genau das haben wir aber nicht getan. Wir haben uns vielmehr Zeit gelassen, um erst einmal die Funktionalität zu erproben und dann unsere eigenen Schlüsse zu ziehen.

Personalmagazin: Das heißt: Sie haben die Krise bewusst zum Ausnahmezustand deklariert?

Grolms: Richtig, und zwar so lange, wie die Pandemie andauert. Wir haben damals eine Notvereinbarung geschlossen, die festlegte, dass – in Abstimmung mit dem Krisenstab – eine hundertprozentige Abwesenheit aus dem Office möglich und machbar ist.

Pandemie legt Versäumnisse bei der Humanisierung der Arbeitswelt offen

Personalmagazin: Wie gestalten Sie den Unterschied zwischen den Verwaltungsbereichen und den produktionsnahen Abteilungen?

Grolms: Ja, das ist das grundlegend anders. Die produktionsnahen Bereiche, die sozusagen im Zwischenbereich zwischen Produktion und den eher administrativen Funktionen angesiedelt sind, konnten zu einem großen Teil mobil arbeiten. Aber an den Anlagen, am Hochofen, an den Verarbeitungsaggregaten und im Hafen war und ist das natürlich nicht möglich. Hier hat die Pandemielage ein Schlaglicht auf unsere Versäumnisse bei der Humanisierung der Arbeitswelt geworfen. Im Zuge der Globalisierung sind nach meiner Wahrnehmung Themen wie Gruppenarbeit, Job Enrichment und Job Enlargement zu weit in den Hintergrund gerückt. Der globale Wettbewerb hat letztendlich zu einer Re-Taylorisierung geführt. Ob die Menschen in der Produktion einen Anspruch darauf hatten, sich und ihr Arbeitsumfeld weiterzuentwickeln, wurde wenig hinterfragt.

Der globale Wettbewerb hat letztendlich zu einer Re-Taylorisierung geführt. Ob die Menschen in der Produktion einen Anspruch darauf hatten, sich und ihr Arbeitsumfeld weiterzuentwickeln, wurde wenig hinterfragt. - Markus Grolms

Personalmagazin: Wie haben Sie darauf reagiert?

Grolms: In der Pandemie haben wir neben der Notvereinbarung Umfragen gestartet und Fokusgruppen eingerichtet, in denen wir diskutiert haben, wie wir künftig zusammenarbeiten wollen – mit dem Ziel, irgendwann zu einer Vereinbarung zu kommen. Gleichzeitig haben wir mit jungen Talenten ein Projekt gestartet, bei dem die Mitarbeitenden in der Produktion befragt wurden: Wie nehmt ihr eure Arbeitswelt wahr, was belastet euch, wie könnt ihr euch eine bessere Arbeitsgestaltung vorstellen? Dass wir dieses Interesse gezeigt haben, war ein wichtiges Signal.

Dabei haben sich vor allem vier Arbeitsfelder herausgeschält: flexible Gestaltung von Arbeitszeit und Arbeitsort, effizientere Arbeitsorganisation und eine bessere Gestaltung der Arbeitsplätze. Zu alledem steht natürlich auch ein Managementdiskurs an, aber die Weiterentwicklung der Arbeitswelt im Produktionsbereich ist halt nicht so fancy. Das ist aber der Bereich unserer Kernwertschöpfung, in dem wir unser Geld verdienen.

Autonomie-Anspruch vs. Führung: Vieles muss erst gelernt werden

Personalmagazin: Für die Arbeitsplatzgestaltung sind damit neue Prämissen verbunden.

Grolms: Richtig. Die eine Prämisse lautet: Zu uns kommt niemand mehr, weil er muss. Denn den Kampf um die Talente haben in der Tat die Talente gewonnen. Es wäre hochgradig dämlich, wenn wir hier in der Verwaltung ein schickes Feuerwerk der Veränderung abfackeln und den Mitarbeitenden in der Produktion sagen: Bei euch bleibt halt alles, wie es ist.

Personalmagazin: Wo verlaufen nach Ihren Beobachtungen aktuell die Konfliktlinien im Konzern: zwischen verwaltungsorientierten und produktionsnäheren Bereichen – oder zwischen Führungskräften, die den neuen Arbeitsmodus eher restriktiv gestalten wollen, und anderen, die ihren Teams größere Freiheit geben wollen?

Grolms: Zwischen Produktions- und Verwaltungsmitarbeitenden sehe ich keine wesentlichen Konfliktlinien, was sicher auch daran liegt, dass wir den Teams in der Produktion und ihrer Arbeit großen Respekt entgegenbringen. Hinzu kommt, dass sich unsere Produktionsmitarbeitenden zumeist sehr mit ihrer Arbeit identifizieren. Spannungen beobachte ich eher innerhalb der Teams. Sie entstehen zwischen dem Autonomieanspruch der Mitarbeitenden, möglichst allein darüber entscheiden zu wollen, wann sie anwesend sind und wann nicht, und dem Anspruch der Führungskräfte, das nicht besprechen, sondern anordnen zu wollen. Das muss vielleicht von der einen oder anderen Führungskraft und dem einen oder anderen Mitarbeitenden noch erlernt werden.


Weitere Interviews dieser Reihe sind erschienen in Personalmagazin Ausgabe 7/2022. Lesen Sie das gesamte Heft auch in der Personalmagazin-App.


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