PQ State of the Art: Ambidextrie und Unternehmenserfolg

Ambidextrie bezeichnet die Fähigkeit, Stärken im Kerngeschäft eines Unternehmens auszuschöpfen und gleichzeitig die Anpassung an zukünftige Herausforderungen durch Innovationen erfolgreich voranzutreiben - eine Fähigkeit, die gerade in Krisenzeiten gefragt ist. Professor Torsten Biemann und Professor Heiko Weckmüller gehen der Frage nach: Führt Ambidextrie zu einem höheren Unternehmenserfolg und welche Faktoren sind hierfür ausschlaggebend?

Digitalisierung wird von der Mehrzahl der Unternehmen heute sowohl als Bedrohung als auch als Chance angesehen: Bedrohung, da neue, disruptive digitale Geschäftsmodelle etablierte Anbieter in ihrer Existenz gefährden, und Chance, da sich ungeahnte Wachstumsoptionen ergeben, wenn digitale Innovationen im eigenen Unternehmen entstehen. So zeigt das preisgekrönte Image­video "A Journey to Silicon Valley" den Vorstand von Axel Springer vor dem Hintergrund der existenziellen Bedrohung des traditionellen Printgeschäfts auf der Suche nach grundlegenden Innovationen und der korrespondierenden Führungs- und Unternehmenskultur. Dieser Wandel gelingt allerdings nur, wenn das bisherige Kerngeschäft weiterhin Gewinne abwirft: "Let's keep some decent German Spießertum", fasst Matthias Döpfner den notwendigen und Springer spezifischen Spagat zwischen Tradition und Innovation zusammen.

Ambidextrie bezeichnet grundsätzlich die Fähigkeit, Stärken im Kerngeschäft eines Unternehmens auszuschöpfen und gleichzeitig die Anpassung an zukünftige Herausforderungen durch Innovationen erfolgreich voranzutreiben. Als strategischer Wettbewerbsvorteil in der sogenannten VUCA-Welt erleben Führungs-, Kultur- und Organisationskonzepte, die auf Ambidextrie abzielen, aktuell eine Hochkonjunktur im Beratungsmarkt. Was auf den ersten Blick auf die gewählten Begrifflichkeiten nach einer kurzlebigen Managementmode aussieht, weist bei näherem Hinsehen auf eine lange Tradition in der Organisations- und Managementforschung hin. Mindes­tens seit den 1990er Jahren und verstärkt seit 2004/2005 (Birkinshaw/Gupta, 2013) ist die Frage virulent, wie Unternehmen gleichzeitig anpassungsfähig bei Veränderungen sein können, ohne ihr bisheriges Kerngeschäft aus den Augen zu verlieren. Vor diesem Hintergrund steht für uns die Frage im Vordergrund: Führt Ambidextrie zu einem höheren Unternehmenserfolg und welche Faktoren sind hierfür ausschlaggebend? Dabei differenzieren wir insbesondere zwischen der personalen Ebene (individuelles Verhalten und Führungsstil) und der organisationalen strukturellen Ebene. Auf der Organisationsebene ist zudem interessant, ob Unternehmen vor dem Hintergrund der grundsätzlichen Widersprüchlichkeit der Zielsetzungen und der Ressourcenbegrenzung statt einer Maximierung von Kerngeschäftsausschöpfung und Innovationsverhalten eher einen balancierten Ansatz verfolgen sollten. Basis der folgenden Darstellungen sind insbesondere die Metaanalysen von Paulina Junni und Kollegen (2013) und Kathrin Rosing und Kollegen (2011). Zunächst wollen wir jedoch die relevanten aber intuitiv schwer zu fassenden Kernbegriffe Ambidextrie, Exploration und Exploitation exakter bestimmen.

Was ist Ambidextrie? Definition und Dimensionen

Gemäß der Kontingenztheorie (zum Beispiel Lawrence/Lorsch, 1967) müssen sich Unternehmen an Veränderungen der Umwelt und der Technologien anpassen können, um langfristig überlebensfähig zu bleiben. Konkret müssen einerseits radikale Innovationen gefördert werden (Exploration), ohne andererseits die Erfolge und Gewinne des traditionellen Kerngeschäfts durch unzureichende inkrementelle Innovationen zu gefährden (Exploitation). Diese Differenzierung geht schon auf James March (1991) zurück. Demnach unterscheiden sich die beiden Ansätze in ihren Anforderungen zum Beispiel an die Organisationsstruktur, die Unternehmenskultur und die Führungskräfte grundlegend. Erfolgreiche Exploration erfordert unter anderem Risikobereitschaft, Autonomie und Dezentralität, während Exploitation auf Effizienz, Kontrolle und formalen Strukturen basiert. Ansätze, die Unternehmen in die Lage versetzen, beide Anforderungen gleichermaßen zu erfüllen, werden unter dem Begriff Ambidextrie oder auch Ambidexterität zusammengefasst: "[Ambidexterity is] ... the ability to simultaneously pursue both incremental and discontinuous innovation and change [that] results from hosting multiple contradictory structures, processes, and cultures within the same firm" (Tushman/O'Reilly, 1996, S. 24). Der Begriff geht auf die beiden lateinischen Wörter ambo und dexter zurück, weshalb sich auch häufig die Übersetzung Beidhändigkeit findet.

Diese bildhafte Analogie dürfte aber für die Managementpraxis eher irreführend sein. In ihrem Überblicksartikel beklagen O’Reilly und Tushman (2013) die unterschiedliche und generische Verwendung des Begriffs, die zur Unschärfe des theoretischen und empirischen Konzepts führe. Jüngst wurde der Versuch unternommen, sechs grundlegende verbindende Elemente nachzuweisen: "(1) simultaneity versus punctuation, (2) trade-off and balance, (3) synchronicity and dexterity, (4) magnitude, (5) managing tension, and (6) firm survival" (Hughes, 2018, S. 183). Darüber hinaus lassen sich unterschiedliche Ansätze unterscheiden, mit deren Hilfe Ambidextrie erreicht werden soll. Für das Human Resource Management ist dabei zum einen entscheidend, wie Ambidextrie durch organisatorische und strukturelle Maßnahmen erreicht wird, und zum anderen, welche Führungseigenschaften und -stile und darauf aufbauende Personalentwicklungsmaßnahmen Erfolg versprechend sind.

Organisationale Ambidextrie 

In ihrer Metaanalyse untersuchen Paulina Junni und Kollegen (2013) den Zusammenhang zwischen Ambidextrie und Unternehmenserfolg. Zunächst betrachten sie die Exploration und Exploitation isoliert und stellen einen moderaten positiven Zusammenhang zwischen Exploitation und dem Unternehmenserfolg sowie zwischen Exploration und dem Unternehmenserfolg fest, ohne dass sich einer der beiden Ansätze als überlegen erweist (Korrelation jeweils 0,26). Exploitation ist dabei wie theoretisch anzunehmen eher mit höheren Gewinnen, Exploration eher mit höheren Wachstumsraten verbunden. Die Forschung zur organisationalen Ambidextrie geht von der Hypothese aus, dass Unternehmen, die sowohl Exploita­tion als auch Exploration verfolgen, einen Wettbewerbsvorteil haben (He/Wong, 2004).

Auf der Basis von 25 Einzelstudien, die insgesamt über 26.000 Unternehmen berücksichtigen, finden die Autoren einen nur schwach positiven, statistisch aber signifikanten Zusammenhang zwischen Ambidextrie und Unternehmenserfolg (Korrelation: 0,06). 

Darüber hinaus gehen die Autoren der Frage nach, ob der balancierte oder der kombinierte Ansatz Erfolg versprechender ist. Beim balancierten Ansatz versuchen Unternehmen, Exploitation und Exploration gleichgewichtig zu verfolgen, selbst wenn dabei eine Zielsetzung nicht voll ausgeschöpft wird; beim kombinierten Ansatz hingegen versuchen Unternehmen das Maximum in jeweils beiden Dimensionen zu erreichen (Cao et al., 2009). Empirisch wird die spezifische strategische Ausrichtung der Unternehmen in der Regel nicht direkt erfasst. Vielmehr wird das Ausmaß von Exploitation und Exploration ermittelt und anschließend durch mathematische Verknüpfung, zum Beispiel Multiplikation der Ausprägungen, eine indirekte Interpretation des verfolgten Ansatzes durchgeführt.

Beide Ansätze sind mit höherer Unternehmensperformance verbunden. Der kombinierte Ansatz weist dabei allerdings eine höhere Verbindung mit dem Unternehmenserfolg auf als der balancierte Ansatz (Korrelationen siehe Abbildung 1). Dieser auf den ersten Blick eindeutige empirische Nachweis zugunsten des kombinierten Ansatzes muss bei einer näheren Analyse der zugrunde liegenden Einzelstudien etwas relativiert werden. Der positive Performanceeffekt zeigt sich insbesondere dann, wenn die Unternehmensperformance befragungsbasiert subjektiv eingeschätzt wird. Nutzen Studien objektive Performancemaße, ist der Effekt deutlich geringer und wird sogar statistisch insignifikant. Erschwerend kommt hinzu, dass Untersuchungen zum balancierten Ansatz eher auf objektiven Performancedaten beruhen, der Unterschied zwischen den beiden Ansätzen somit tendenziell überschätzt sein dürfte. Insgesamt kann jedoch ein schwach positiver Effekt der organisationalen Ambidextrie und eine grundsätzliche, wenn auch nicht exakt quantifizierbare Vorteilhaftigkeit des kombinierten Ansatzes angenommen werden.

Abb. 1: Organisationale Ambidextrie und Unternehmenserfolg: Korrelation

Personale Ebene: Ambidextre Führung

Neben der organisatorisch-strukturellen Ebene ist auch die individuelle Ebene relevant für die Umsetzung von Ambidextrie: "ambidextrous organizations need ambidextrous senior teams and managers" (O'Reilly/Tushman, 2004, S. 81). Dies wird insbesondere dann bedeutsam, wenn explorative und exploitative Aktivitäten im Unternehmen nicht organisatorisch getrennt werden (strukturelle Ambidextrie) sondern vielmehr den Mitarbeitern die Aufgabe zukommt, beide Handlungs­dimensionen zu vollziehen (kontextuale Ambidextrie). 

Untersuchungen über das konkrete individuelle Mitarbeiter- und Führungskräfteverhalten liegen bislang leider nur vereinzelt oder qualitativ vor (zum Beispiel Bonesso et al., 2014). Untersucht wird bislang häufiger der Zusammenhang zwischen Führungsstilen und Innovationsverhalten im Allgemeinen bzw. Ambidextrie im Speziellen. Während einerseits die Bedeutung des Führungsverhaltens für die Umsetzung von Ambidextrie unmittelbar evident erscheint, sind die Befunde bezüglich der Vorteilhaftigkeit etablierter Führungsstile nicht eindeutig. Während zum Beispiel ein transaktionaler Führungsstil Exploitation fördert, ist der Nachweis der Vorteilhaftigkeit transformationaler Führung für Innovationsverhalten noch nicht umfangreich gelungen. Justin Jansen und Kollegen (2009) zeigen in einer quantitativen Fallstudie einen positiven Zusammenhang zwischen transformationaler Führung und Exploration, aber keinen Zusammenhang zur Exploitation, während transaktionale Führung negativ mit Exploration und positiv mit Exploitation verbunden ist. Demgegenüber können Tobias Keller und Jürgen Weibler (2014) keinen Zusammenhang zwischen transformationaler Führung und Exploration nachweisen.

Auf Einzelbefunden aufbauend untersucht die Metaanalyse von Kathrin Rosing und Kollegen (2011) den Zusammenhang zwischen transformationaler Führung und Innovationsverhalten der Unternehmen. Sie finden zunächst einen moderaten positiven Zusammenhang (Korrelation r = 0,29 auf Basis von 5.113 Fällen (n) in 31 Einzeluntersuchungen (k)), wobei allerdings die Spanne in den Einzelstudien sehr groß ist (-0,31 bis +0,81). Die Autoren schließen daraus, dass die in der Forschung etablierten Führungsstile innovatives Verhalten nur unzureichend abbilden können und schlagen als Alternative das Konzept der ambidextren Führung vor. Diese besteht aus drei Elementen: 1) öffnendem („opening“) Führungsverhalten zur Förderung von Exploration, 2) schließendem Führungsverhalten zur Förderung der Exploitation sowie 3) der Fähigkeit, zwischen beiden Verhaltensmodi zu wechseln. Abbildung 2 liefert eine Übersicht über typisch öffnende und schließende Verhaltensweisen, wobei sich eine inhaltliche Nähe ohne vollständige Übereinstimmung zwischen öffnendem und transformationalem sowie zwischen schließendem und transaktionalem Führungsstil zeigt. Die umfassende empirische Validierung dieser Konzeption jenseits von Einzelstudien (Zacher et al., 2016) steht allerdings noch aus.

Abb. 2: Öffnendes und schließendes Führungs­verhalten

Zusammenfassung und Handlungsempfehlungen


  • Organisationale Ambidextrie hat einen positiven, aber schwachen Einfluss auf den Unternehmenserfolg. Als Allheilmittel für die Zukunftsfähigkeit von Organisationen in einer unsicheren Umwelt kann sie nicht dienen.
  • Der kombinierte Ansatz zur maximalen Verfolgung von Exploitation und Exploration ist dem balancierten Ansatz überlegen. 
  • Auf der individuellen Ebene ist der transformationale Führungsstil tendenziell innovationsfördernd. Allerdings sind die in der Forschung etablierten Führungsstile unzureichend zur Identifizierung ambidextrer Führung.


Literaturverzeichnis:

Birkinshaw, J./Gupta, K. (2013): Clarifying the Distinctive Contribution of Ambidexterity to the Field of Organization Studies. The Academy of Management Perspectives, 27(4), 287-298.

Bonesso, S./Gerli, F./ Scapolan, A. (2014): The individual Side of Ambidexterity: Do Individuals’ Perceptions Match Actual Behaviors in Reconciling the Exploration and Exploitation Trade-off? European Management Journal, 32(3), 392-405.

Cao, Q./Gedajlovic, E./ Zhang, H. (2009): Unpacking Organizational Ambidexterity: Dimensions, Contingencies, and Synergistic Effects. Organization Science, 20(4), 781-796.

He, Z. L./Wong, P. K. (2004): Exploration vs. Exploitation: An Empirical Test of the Ambidexterity Hypothesis. Organization Science, 15(4), 481-494.

Hughes, M. (2018): Organisational Ambidexterity and Firm Performance: Burning Research Questions for Marketing Scholars. Journal of Marketing Management, 34(1-2), 178-229.

Jansen, J. J./Vera, D./ Crossan, M. (2009): Strategic Leadership for Exploration and Exploitation: The Moderating Role of Environmental Dynamism. The Leadership Quarterly, 20(1), 5-18.

Junni, P./Sarala, R. M./ Taras, V./Tarba, S. Y. (2013): Organizational Ambidexterity and Performance: A Meta-analysis. The Academy of Management Perspectives, 27(4), 299-312.

Keller, T./Weibler, J. (2014): Behind Managers’ Ambidexterity. Schmalenbach Business Review, 66(3), 309-333.

Lawrence, P. R./Lorsch, J. W. (1967): Differentiation and Integration in Complex Organizations. Administrative Science Quarterly, 12(1): 1-47.

March, J. G. (1991): Exploration and Exploitation in Organizational Learning. Organization Science, 2(1), 71-87.

Mueller, V./Rosenbusch, N./Bausch, A. (2013): Success Patterns of Exploratory and Exploitative Innovation: A Meta-analysis of the Influence of Institutional Factors. Journal of Management, 39(6), 1606-1636.

O’Reilly III, C. A./Tushman, M. L. (2004): The Ambidextrous Organization. Harvard Business Review, 82(4), 74–81.

O‘Reilly III, C. A./Tushman, M. L. (2013): Organizational Ambidexterity: Past, Present, and Future. Academy of Management Perspectives, 27(4), 324-338.

Rosing, K./Frese, M./Bausch, A. (2011): Explaining the Heterogeneity of the Leadership-Innovation Relationship: Ambidextrous Leadership. The Leadership Quarterly, 22(5), 956-974.

Tushman, M. L./O’Reilly III, C. A. (1996): The Ambidextrous Organization: Managing Evolutionary and Revolutionary Change. California Management Review, 38(4), 8-29.

Zacher, H./Robinson, A. J./Rosing, K. (2016): Ambidextrous Leadership and Employees‘ Self-Reported Innovative Performance: The Role of Exploration and Exploitation Behaviors. The Journal of Creative Behavior, 50(1), 24-46.


Erschienen im Wissenschaftsjournal PERSONALquarterly 3/2018.