Personalauswahl: Probearbeit misst maximales Verhalten

Bei der US-Firma Automattic müssen sich alle Mitarbeiter vor der Einstellung mit Probearbeiten bewähren. Innerhalb von zwei bis sechs Wochen müssen sie echte Jobs ihrer künftigen Tätigkeit lösen. Psychologe Martin Kersting erklärt, wie sinnvoll diese Auswahlmethode wirklich ist.

Haufe Online Redaktion: Wie hoch ist die prognostische Validität des Probearbeitens für die Personalauswahl?

Prof. Dr. Martin Kersting: Empirische Befunde liegen vor allem für die Probezeit vor. Diese dauert aber wesentlich länger als nur eine Woche. Die Aussagekraft der Probezeit ist hoch, im abgeschwächten Maße sollte daher auch die Probearbeit belastbare Erkenntnisse liefern, da diese Methode ähnliche Vorzüge aufweist: Dem Bewerber werden Aufgaben gestellt, die die Arbeitswirklichkeit umfassend abbilden. Anders als bei anderen Methoden wird auch das tatsächliche Arbeitsumfeld einbezogen. Methoden, wie Tests, Fragebogen, Interviews und Rollenspiel betrachten den Bewerber in einem künstlichen Umfeld und ziehen daraus Rückschlüsse auf seine Eignung.

Haufe Online Redaktion: Lässt sich mit der Probearbeit also gut der Berufserfolg voraussagen?

Kersting: Die Eignung eines Menschen kann nicht allein als eine Eigenschaft der Person verstanden werden. Um beruflich erfolgreich zu sein, muss ein Mensch mit anderen, konkreten Menschen zusammenarbeiten und sich in bestimmten Arbeitsumgebungen zurechtfinden können. Der Ansatz der Probearbeit ist ganzheitlich. Man kann beobachten, ob und wie ein Mensch mit den Menschen, mit denen er später zusammenarbeiten soll sowie mit der konkreten Arbeitsumgebung klar kommt. Dies kann aufschlussreicher sein als seine Interaktion mit Rollenspielern oder Interviewern.

Haufe Online Redaktion: Lässt sich das Probearbeiten nicht leicht verfälschen, indem man sich in dieser kurzen Zeit vorbildlich gibt?

Kersting: Hier ist auf jeden Fall zu bedenken, dass man mit der Probearbeit lediglich so genanntes „maximales Verhalten“ erfasst. Mit der Probearbeit erfährt man nur, was der Bewerber maximal leisten kann. Im Dunkeln bleibt, was er typischerweise leistet und was er in Zukunft leisten will. Diesbezüglich sind Analysen zur Biografie und zur Motivation notwendig.

Haufe Online RedaktionWie muss die Probearbeit gestaltet sein, damit die Validität möglichst hoch ist?

Kersting: Die Gestaltung ist sehr anspruchsvoll – meistens scheitert die gute Idee der Probearbeit an der Durchführung. Der Bewerber muss mit einer möglichst repräsentativen Stichprobe der in Frage stehenden bedeutsamen beruflichen Anforderungen sowie der in Frage stehenden beruflichen Kontaktpersonen – also Vorgesetzte, Kollegen, Mitarbeiter, Kunden – und Arbeitsumgebungen konfrontiert und dabei systematisch beobachtet werden. Dies stellt eine erhebliche Belastung der Organisation dar. Damit die Probearbeit aussagekräftig ist, müssten die Bedingungen, unter denen die Arbeit erbracht wird und die Beurteilung der Probearbeit aber auch zumindest weitgehend standardisiert sein. Man muss also einen Kompromiss zwischen Standardisierung und realen Bedingungen finden. Zumindest für die Beurteilung der Qualität der Probearbeit sind vorab klare Beurteilungskriterien und -regeln aufzustellen.

Haufe Online Redaktion: Inwiefern kann man auch von einer hohen Validität dieses Auswahlinstruments ausgehen, wenn der Bewerber die Aufgaben von zuhause aus erledigt?

Kersting: Damit entfällt ein wesentlicher Vorteil der Probearbeit vor Ort: Man sieht nicht, wie das System aus Bewerber einerseits und berufsrelevantem Umfeld andererseits funktioniert.  Außerdem können Bewerber, die die Probearbeit zuhause erledigen, „faken“ und sich zum Beispiel massive Unterstützung holen. Dennoch ist das Vorgehen informativ: Wer selbst bei einer Probearbeit ohne Aufsicht versagt, hat wenig Aussicht, unter ungünstigeren Bedingungen erfolgreich zu sein. Die Probearbeit zuhause kann also für Screening-Zwecke genutzt werden. Außerdem ist die Arbeit von zuhause aus mittlerweile üblich, sodass eine entsprechende Probearbeit die Anforderungen realistisch wieder gibt.

Haufe Online Redaktion: Halten sich beim Probearbeiten Aufwand und Nutzen überhaupt die Waage?

Kersting: Die Aussagekraft der Methode "Probearbeit" steht und fällt mit dem Aufwand. Probearbeiten müssen sorgfältig vorbereitet, durchgeführt, ausgewertet und interpretiert werden. Betreibt man diesen Aufwand, erhält man viele eignungsrelevante Informationen über den Bewerber. Die Methode birgt aber auch erhebliche Risiken: An erster Stelle steht hier die Akzeptanz des Bewerbers. Natürlich begrüßen es Bewerber, wenn sie einen direkten Einblick in die Arbeit erhalten und umfassend betreut werden. Aus den Theorien der prozeduralen Gerechtigkeit lässt sich aber ableiten, dass die Bewerber sehr sorgfältig prüfen, ob der investierte Input (die Probearbeit) mit dem wahrgenommenen Output (Eignungsbeurteilung des Bewerbers) übereinstimmt. Nach einer aufwändigen Probezeit abgelehnte Bewerber können dem Unternehmen gegenüber nachhaltig sehr kritisch eingestellt sein. Dabei ist zu bedenken, dass Bewerber „Storyteller“ sind, die ihre Erfahrungen an ihr Umfeld weitertragen; so nimmt die Arbeitgebermarke Schaden. Personalverantwortliche zögern darum häufig, nach einer derartigen Vorleistung des Bewerbers durch die Probearbeit eine Absage auszusprechen. Aus diesem Grund kann es nützlich sein, die Probearbeit ordentlich zu vergüten.

Haufe Online Redaktion: Sollte man daneben auf weitere Methoden der Personalauswahl setzen?

Kersting: Die Probearbeit allein ist unzureichend. Die notwendige zusätzliche Diagnose des typischen Verhaltens erfordert den Einsatz weiterer Methoden. Die Entscheidung über die Abfolge der Verfahren sollte strategisch erfolgen: Man beginnt mit wenig aufwändigen Verfahren wie beispielsweise einem „Online Screening“ mit Leistungstests und Persönlichkeitsfragebogen. Danach lädt man die vorausgewählte kleinere Anzahl von Personen zum „Face to Face“-Termin ein und beschränkt die anschließende Probearbeit auf sehr wenige Kandidaten. Dann ist man allerdings sehr nah an der gängigen Praxis der Probezeit – die allerdings von viel zu wenigen Organisationen wirklich als diagnostische Phase genutzt wird – denn sie beurteilen sie nicht standardisiert und häufig werden bei Minderleistungen keine Konsequenzen gezogen.

Prof. Dr. Martin Kersting ist Professor für psychologische Diagnostik an der Justus-Liebig-Universität Gießen ( www.kersting-internet.de).

Das Interview führte Kristina Enderle da Silva, Redaktion Personal.

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