New Work: Freiheit kann anstrengend sein

Der Ruf nach Experimenten und der neuen Arbeitswelt klingt sympathisch. Wer will da schon widersprechen? Doch die neue Freiheit kann anstrengend sein und erfordert Selbstdisziplin, erläuert Harald Schirmer, Digital Change Manager der Continental AG.

Die vorliegende Studie Der Ruf nach Freiheit ist spannend und ein Beweis für die oft geteilte Meinung, dass Arbeit sich dramatisch verändert. Sie ist die logische Bestätigung dessen, was man überall hört. Die sieben Thesen lesen sich wie das kleine Einmaleins der modernen Organisation – das muss man nur noch machen.

Vor das "Machen" haben die Change-Götter aber das "Wollen" und für die weniger vorausschauend Handelnden das "Müssen" (Schmerz als Veränderungstrigger) gesetzt. Jetzt sollte man meinen, dass eine Veränderung in diese doch sehr positive, weil freiheitliche, respektvolle, beteiligende, demokratische, vertrauensvolle Arbeitswelt für jeden erstrebenswert sein sollte. Aber Vorsicht: "Was gut klingt", kann in der Umsetzung anders erlebt werden. 

Die Basis einer Unternehmenskultur sind deren Führungsstile. Glaubenssätze, die sich teils über Generationen aufgebaut haben und kaum durch das "Ausrollen" von neuen Firmenwerten wie "Trust" wegfegen lassen. Ich möchte einen kleinen Erfahrungsbericht geben, wenn man sich entlang der guten sieben Thesen auf diese Veränderungsreise macht.

Freiheit in der Arbeit stärken 

"Super, nehme ich!" sprach der Arbeitnehmer, bis ihm seine Führungskraft die Prinzipien effizienten Arbeitens (Lean, Qualität, Prozesse, Freigaben …) in Erinnerung ruft. Die viel zitierte Feuerwehr möge im Brandfall bitte nicht agil und selbstbestimmt experimentieren, sondern sicher, schnell und ohne Verluste einen guten Job tun. Ebenso sieht es auch beispielsweise in der Elektronik aus. Hier geht es um Sicherheitselektronik, die Leben retten soll – und das zu einem wettbewerbsfähigen Preis.

Die beschriebene Freiheit ist absolut wichtig – wir müssen aber herausarbeiten, wo in der Wertschöpfungskette, wann und bei welchen Personen und in welchen Funktionen Freiheit in welchem Maß sinnvoll ist. Wenn das geklärt ist, müssen wir unsere Führungskräfte mit Ausbildung, Methoden und "Sicherheit" ausstatten, denn "Freiheit" war bisher nicht das, was wir von ihrem Handeln erwartet haben. Das ist dringend notwendig, da heute die Zielerreichung über Messzahlen, Kontrolle und sehr enge Steuerung bewertet wird. Ergebnisse eines Teams, das "freiheitlich" zusammenarbeitet, sehen oft völlig anders aus, als zu Budgetbeginn geplant – damit muss man umgehen lernen. 

Experimentierkultur fördern 

Klar! Auch hier kann die Aussage nicht sein – jeder soll jetzt alles in Frage stellen. Was damit oft gemeint ist, bezieht sich auf "mitdenkende Mitarbeiter", auf Verantwortungsübernahme oder vorausschauendes Handeln. Mitarbeiter sollen den Führungskräften und dem Unternehmen helfen, Probleme vorherzusehen, Arbeit und Abläufe anders (effizienter) anzugehen, durch cross-funktionale Kommunikation, Austausch und Netzwerke innovativere Lösungen vorschlagen. 

Das macht absolut Sinn – übernehmen Mitarbeiter aber nun diese zusätzlichen "Führungsaufgaben", müssen sie dazu befähigt werden. Zum Experimentieren braucht man Zeit, oft auch etwas "Spielgeld" (Kickstarter), um in Ideen investieren zu können – auch Prototypen sind nicht umsonst. Die notwendige Freiheit, den Umgang mit dem Scheitern beziehnungsweise der Arbeit an etwas, was nicht von Tag eins ein berechenbares Ergebnis (ROI) abwirft – haben wir uns abtrainiert. Auch sollte man einen Gedanken an die Führungskräfte verschwenden, wenn man ihnen jetzt erklärt, dass ihre "Untergebenen" plötzlich ihre eigenen Aufgaben übernehmen sollen. 

Entscheidungsprozesse für direkte Demokratie öffnen 

"Demokratie in einer Hierarchie?", "Transparenz verwirrt die Mitarbeiter", "Informationsflut", "Angst vor Machtverlust", "Wer trägt dann die Verantwortung", "Beteiligung kostet so viel Zeit" – es gibt eine große Sammlung von Vermutungen, die eine Öffnung verhindert. Ein Grund für Hierarchie war doch die Ineffizienz unserer bisherigen Kommunikation. Beteiligung im Change Management war maximal eine Umfrage. Social Media ist als Beteiligungsformat bei den meisten Führungskräften noch nicht angekommen. Entscheidungsunterstützung durch globale Diskussionen gewinnen bei uns langsam das notwendige Vertrauen. Aber nicht nur auf der Seite der Führung erzeugt Demokratisierung Kopfzerbrechen – auch die Mitarbeiter können es oft nicht glauben, wirklich nach ihrer Meinung gefragt zu werden.

Überholte Führungsmodelle ersetzen 

"Was uns bisher erfolgreich gemacht hat, soll plötzlich hinderlich sein!", "Für viele ist die Änderungsgeschwindigkeit schlicht atemberaubend": Viele Organisationen haben es in kurzer Zeit geschafft, vom "Verbot" (zum Beispiel der Facebook-Nutzung) über die Erlaubnis hin zu "Pflicht"-Nutzung umzustellen. In unseren Medien werden diese sozialen Beteiligungsformate immer wieder als Quelle des Bösen bezeichnet. Führung von virtuellen Teams, von globalen Netzwerken, von thematischen Communities, die in keiner Funktion, Division oder hierarchischen Darstellung verankert sind, verlangt nach völlig neuem (nicht-disziplinarischen) Führungsverhalten – und jeder kann in diese Verantwortung kommen. Auch dazu gibt es bislang kaum zentrale Methoden oder auch nur Wertschätzung der Zeitinvestition. Immer öfter sehen wir aber mutige Gruppen, die hier hervorragende Pionierarbeit leisten. Das sind echte Arbeitsweltengestalter!

Freiheits- und Partizipationsrechte auch vertraglich verankern

Das würde Sicherheit und Verlässlichkeit schaffen. Grenzen sind hier oft auch gesetzliche Vorgaben: "Wie kann ich als Führungskraft meine Verantwortung wahrnehmen, wenn ich keine Kontrolle mehr über Anwesenheit, Arbeitsmethodik, Zielerreichung habe?", "Wenn sich dann alle überall beteiligen, wer arbeitet dann noch?" Es scheint wenig Vertrauen in selbstgesteuertes Verhalten zu geben, zumal die wenigsten von uns Langeweile plagt. Diese Freiräume, die Beteiligung und notwendige Weiterbildung muss irgendjemand bezahlen – in Zeit oder Geld. Erst wenn wir den dafür notwendigen Invest (zum Beispiel mit zehnprozentigem bedingungslosem Grund-Lern-Einkommen) verankern, wird es ernst zu nehmende Schritte geben – bis dahin ist das alles "on-Top". An verschiedenen Stellen erlebe ich es, wie kontinuierliches Lernen im Arbeitsalltag verankert wird.

Hierarchiearme, vertrauensbasierte Netzwerkstrukturen fördern 

Das klappt ganz gut, ist jedoch auch ein längerer Lernprozess auf allen Seiten. Die verbreitete Meinung, Netzwerke würden sich selbst führen, sind chaotisch oder ineffizient, kann erst durch erlebbare Erfolge verändert werden. Perspektivenvielfalt bedeutet für jemandem, der noch keinen "Reifegrad" im Netzwerken hat, erheblichen Aufwand. Globale Beteiligung bedeutet, nicht jeden abzuholen oder ewig zu diskutieren. Was in der Hierarchie Regeln, Kontrolle und Zielvereinbarungen waren, sind in Netzwerken Prinzipien, eine Vision/Mission und gemeinsame Werte, die von Leadern der Community vorgelebt und eingefordert werden. Es geht darum, aus Untergebenen, die für Geld arbeiten müssen, selbständige "Follower" zu machen, die sich um der Sache wegen beteiligen. Im privaten Umfeld funktioniert das schon recht gut, da die intrinsische Motivation durch Echtzeitfeedback, Herausforderung und Zielklarheit stetig gefördert wird. Im Organisationskontext fokussiert man sich auf extrinsische Motivation – was in Netzwerkem kaum funktioniert. 

Jede Form von Arbeit wertschätzen – es gibt keine atypische Arbeit 

Es klingt logisch, alles als "Arbeit" zu bezeichnen, um es mit einem Wert zu versehen – ich sehe das kritisch. Kindererziehung ist dann auch Arbeit. Das würde sicher helfen, um dessen Wert zu bestimmen und ein besseres Verständnis zu erreichen, wie aufwändig Kindererziehung ist. Gleichzeitig stellen wir das dann aber in einen Rahmen, in dem auch Urlaub, Arbeitszeiten und Leistungsmessung relevant werden.

In unserer Gesellschaft hat "Arbeit" eine seltsame Reputation – es ist weniger eine erfüllende Bestimmung als ein notwendiges Übel und oft im gleichen Satz wie "Überlastung und Stress". Arbeit muss anstrengend sein und darf keinen Spaß machen – so wurden wir doch geprägt. 
Wertschätzung auf jeden Fall – aber nicht der Arbeit, sondern der Person. Wir sollten die Menschen wieder in den Mittelpunkt stellen, nicht "die Arbeit". Wenn wir in Netzwerken einer Vision folgen, uns einsetzen, alles geben oder eine kreative Denkpause einlegen, fühlt sich das für viele nicht mehr wie Arbeit an. Es entsteht ein tolles Gemeinschaftsgefühl, wir haben Spaß, es entstehen Freundschaften, persönliche Beziehungen. Lernen und Veränderung kommt von innen heraus und als gemeinschaftliches Erlebnis. Über die (Prozess-)Transparenz wird Perspektivenübernahme eingeübt, wir stellen fest, dass wir alle -kulturübergreifend - sehr ähnliche Bedürfnisse haben, was uns auf eine völlig andere Kommunikationsebene bringt. 

Das bestehende Arbeitsweltensystem stabilisiert und verteidigt sich. Um hier nachhaltig erfolgreich zu sein, sollten "systemtypisch" Top-down-Entscheidungen getroffen werden, die diese Veränderung mit großem Kommittent initiiert. Disruptoren oder Early Adopter dehnen oder übertreten bestehende Regeln, widerlegen Glaubenssätze und zeigen neue Wege durch Erfolge auf. Wenn diese risikofreudigen Kollegen "geschützt" und wertgeschätzt werden, kann sich die Organisation organisch verändern. Das braucht definitiv Unterstützung von oben, ein Mandat und, wo notwendig, die Veränderung bestehender Rahmenbedingungen.

Die digitale Transformation geht jeden an, eine Auseinandersetzung ist in jedem Level, jeder Funktion und jedem Prozess notwendig, um hier zu differenzierten Lösungen zu kommen. Das ist äußerst komplex und ganzheitlich – idealerweise übt man das mit den dafür geeigneten Mitteln: Transparenz, Beteiligung, Netzwerke. Continental macht das so und ist auf einem sehr guten Weg! 

 

Die Studie "Der Ruf nach Freiheit" können Sie kostenlos downloaden.

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