Natalie Lotzmann SAP zur Covidsituation 2022

Schuldige an der aktuellen Entwicklung der Pandemie zu suchen, hilft nicht weiter, meint Natalie Lotzmann, Chief Medical Officer SAP. Sie hofft auf einen gesellschaftlichen und politischen Lernprozess hin zu wissensbasierten Regeln - weil Appelle an die Vernunft nicht reichten.

Haufe Online-Redaktion: Nach großen Hoffnungen auf ein baldiges "Zurück ins New Normal" sind viele von der vierten Welle der Pandemie im Herbst überrascht worden. Nun wird die Regierung und deren zögerliches Verhalten von vielen dafür verantwortlich gemacht. Zu Recht?

Natalie Lotzmann: Die Frage nach der Schuld ist die falsche Frage. Sie ärgert mich auch, weil es so leicht ist, mit dem Finger auf "die Politik" zu zeigen, denn natürlich gibt es Zögerlichkeiten, Halbwissen und Ambivalenzen vor dem Hintergrund verschiedenster gesellschaftlicher, wirtschaftlicher und politischer Interessen. Doch dieses medial bevorzugte fortgesetzte Blame Game ist eines der Gründe, warum wir im gesellschaftlichen und politischen Diskurs nicht schon viel weiter sind. Die Frage nach Schuld verstellt immer den Blick auf das eigentliche Thema.

Wir leisten uns eine naive Sozialromantik, als ob es einen goldenen Königsweg gäbe, der es irgendwie allen recht machen kann, um nicht hinschauen zu müssen, dass wir in Zeiten einer Krise als Gesellschaft noch nicht wirklich führungs-, konflikt- und konsequenzfähig sind. Historiker haben jüngst herausgefunden, dass über Jahrhunderte hinweg immer bis zu dreißig Prozent einer Bevölkerung anfällig für Wahn und Verschwörungstheorien waren. Das ist psychologisch erklärbar und sollte die Erkenntnis stärken, dass man nie alle wird erreichen können. Es wird immer Bruchlinien geben. Aber die heilen auch wieder. Das auszusprechen, kommt aber fast schon einem Tabubruch gleich.

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Was die Politik angeht, sie ist in der historisch begründeten föderalen Struktur gefangen, die in Friedenszeiten, wenn man Zeit für Entscheidungsfindung hat, ihre Vorteile hat. In einer Pandemie ist man aber im Ausnahmezustand. Manche Länder haben gar einen "Krieg" gegen das Virus ausgerufen. Und das Bild ist gar nicht falsch, bedarf es doch einer allgemeinen Mobilmachung, im Sinne von Verhaltensregeln ebenso wie klaren Führungsstrukturen und vor allem einer guten Strategie, um gemeinsam gut durch die Krise zu kommen.

Doch genau darauf sind unsere Denk- und Verwaltungsstrukturen bisher nicht vorbereitet. Wir hatten bisher nicht einmal eine Nationale Taskforce – und hätten wir eine gehabt, wäre sie nicht empowert gewesen, einheitliche Regeln durchzusetzen. Und nicht professionell krisenkommunikativ unterstützt, dies ausreichend verständlich zu machen. Stattdessen haben sich aus den verschiedensten politischen und gesellschaftlichen Lagern regelmäßig tatsächliche oder selbsternannte Experten und Krisenmanager unabgestimmt und widersprüchlich zu Wort gemeldet und Bevölkerung und Unternehmen mehr verwirrt als geführt. Und die Mehrzahl unserer Medien hat ebenfalls keine konstruktive Verantwortung als Vierte Gewalt übernommen. 

Abstand, Masken und weltweites Impfen als Gebote des gesunden Menschenverstands  

Haufe Online-Redaktion: Was wäre besser gewesen?

Lotzmann: Nun, lassen Sie es mich nach vorne denken. Statt sich auf den Unterhaltungswert zurückzuziehen, eine Bühne für gegenseitige Schuldzuweisung, und für extreme Positionen zu bieten, sollten die Medien (wie jede Bürgerin und jeder Bürger auch) Mitverantwortung aufbringen, indem sie eine positionierte Moderation übernehmen, zu einem Thema, das wirklich nicht so schwer zu verstehen ist.

Wir wissen seit zwei Jahren, dass es sich erstens um ein neuartiges, sehr ansteckendes Virus handelt, gegen das die Menschheit nicht immun ist, zweitens, dass es sich durch Tröpfchen aus der Ausatemluft von Mensch zu Mensch verbreitet und drittens, dass es immer neue Varianten bilden kann, besonders in Populationen, wo es ungehindert grassieren kann.

Daraus ergeben sich nach gesundem Menschenverstand die wenigen relevanten Gegenmaßnahmen, die ebenfalls nicht schwer zu verstehen sind: Abstand, Masken und sobald es sichere Impfstoffe gibt: Impfen. Und zwar möglichst schnell. Weltweit. Und es ergibt sich die Notwendigkeit, diese Erkenntnisse mit ruhiger Hand in sinnvolle und nachvollziehbare Maßnahmen zu übersetzen und zielgruppenspezifisch zu vermitteln.

Wege aus der Coronapandemie: Blick auf andere Länder hilft 

Haufe Online-Redaktion: Aber wäre genau das nicht die Aufgabe der Politik gewesen?

Lotzmann: Ja, man kann natürlich sagen, eine Politik müsste das eigentlich können. Den Anspruch muss man haben. Aber die Politiker sind ja selbst durch die scheinbare Komplexität verunsichert, sie sind selbst Teil und Spiegel unserer Gesellschaft und damit auch selbst Lernende, die Beratung brauchen. Um die erforderlichen Maßnahmen in klare Regeln zu übersetzen und angemessen zu vermitteln, bedarf es einer Institution, die das Vertrauen der gewählten Regierung und der Mehrheit der Bevölkerung genießt. Ich hoffe, dass dies jetzt passiert. Dabei hilft der Blick auf andere Länder. Warum sind denn gerade viele asiatische Staaten bisher sehr viel besser durch die aktuelle Pandemie gekommen? Weil sie von früheren durchlittenen Pandemien wie beispielsweise SARS und MERS gelernt und die Zeit genutzt hatten, die notwendigen Strukturen zu schaffen und der Bevölkerung sinnvolle Pandemiepläne zu vermitteln.

Und das fällt uns in Deutschland schwer. Wir haben uns ausgeruht auf unseren früheren Stärken in technischem Fortschritt und Bildung, die auf die Zeit nach dem Wirtschaftswunder zutraf. Doch heute sind wir an vielen Stellen einfach nicht mehr top, sondern laufen hinterher. Das rächt sich jetzt. Jede Krise wirkt wie ein Vergrößerungsglas und verdeutlicht die Schwächen im System. Ganz besonders hat sich jetzt die versäumte Digitalisierung gerächt, insbesondere im Öffentlichen Dienst und in der Verwaltung. Und die Reformschwäche eines föderalen Systems, das bisher nicht in der Lage war, sinnvolle Strukturen, umsetzbare Strategien und funktionierende Pläne für den zivilen Krisenfall zu schaffen.

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Die überforderte Politik hat dann eben vieles nach dem Prinzip des geringsten Widerstands entschieden. Wir waren gut im Lockdown und bei Schulschließungen, weil das relativ unkomplex ist. Der Preis war hoch. Aber wir haben es bisher eben versäumt, eine interdisziplinäre Pandemie-Taskforce aufzubauen, die alle Maßnahmen und Regeln in ihren Auswirkungen auf alle Bereiche von Wirtschaft und Gesellschaft beleuchtet und eine klare Strategie mit differenziertem Augenmaß vorschlägt, der die Politik folgt. Die dadurch bedingten Widersprüche und Ungereimtheiten haben nachvollziehbarer Weise zu Verunsicherung geführt und Vertrauen erschwert.

Corona-Risikomanagement bei SAP: Taskforce mit täglichem Situationsbericht

Haufe Online-Redaktion: Manche Unternehmen, auch Sie bei SAP, haben davon losgelöst ihre eigene Taskforce aufgebaut.

Lotzmann: Das haben in der Tat viele Unternehmen besser als die Politik gemacht, es ist allerdings im betrieblichen Kontext auch einfacher. SAP ist da ein wunderbares Beispiel. Als uns im Januar 2020 klar wurde, dass da etwas auf uns zurollt, haben wir sofort unsere interdisziplinäre Taskforce ins Leben gerufen. Seitdem erstellt meine Abteilung bis heute täglich einen weltweiten Situationsbericht mit den aktuellen Infektionszahlen, internationaler Nachrichtenlage und den aktuellsten wissenschaftlichen Veröffentlichungen. Alle davon abgeleiteten Maßnahmen werden auf Basis der Schnittmenge zwischen wissenschaftlichen Erkenntnissen, externen Vorschriften, Unternehmenskultur und gesundem Menschenverstand beschlossen und zeitnah und transparent über alle internen Medienkanäle kommuniziert.

So haben wir, als am Anfang noch nicht genügend medizinische Masken verfügbar waren und sich WHO und RKI gegen Masken für die Allgemeinbevölkerung ausgesprochen hatten, weil die wissenschaftliche Evidenz von Stoffmasken fehle, nach gesundem Menschenverstand entschieden und von uns selbst geprüfte Stoffmasken an alle Mitarbeitenden weltweit verschickt. Auch das politische Hin und Her und die Uneinheitlichkeit der Bundesländer haben wir nicht mitgemacht. Homeoffice war ab sofort für alle möglich, die hausinternen Regeln von Hygiene, Abstand, Maske gelten in allen 20 deutschen Niederlassungen gleich und durchgängig, die Fitnessräume und Kurse blieben überall geschlossen. Sie wurden, wie auch andere Kurse, virtuell ersetzt. Und Impfungen werden durchgeführt, seit Betriebsärzte das endlich tun durften. Von ihnen werden auch persönlich die Fragen der Mitarbeitenden täglich weltweit individuell über eine vertrauliche Inbox beantwortet.

Haufe Online-Redaktion: Als internationales Unternehmen haben Sie bereits einige Erfahrungen, was Pandemien angeht. Andere Unternehmen in Deutschland standen der Situation relativ hilflos gegenüber – was hätte ihnen helfen können?

Lotzmann: Ja, persönlich ist es für mich die vierte Pandemie, wenn auch mit Abstand die größte. Wir haben bei SAP das Glück, auf viele hochengagierte und kompetente interdisziplinäre Kolleginnen und Kollegen mit Erfahrung und verschiedensten Expertisen zurückgreifen zu können. Und unsere ausgeprägte Vertrauenskultur ist auch hilfreich. Das heißt, der Vorstand ist bisher den Vorgaben oder Vorschlägen der Taskforce gefolgt, nicht immer ohne Nachfragen, aber mit Vernunft und Augenmaß.

Auch wenn es um Medizin zu gehen scheint, ist die relevante Faktenlage überschaubar und jede Taskforce kann die erforderliche Expertise aufbauen. Dann kann man auch über offizielle Vorgaben hinaus sinnvoll agieren. Bei SAP ist es uns auf diese Weise gelungen, unsere internen Regeln immer bereits vor der offiziellen Lage kommuniziert und begründet zu haben. Auch das schafft Vertrauen in alle Richtungen.

Entscheidend ist, sich regelmäßig zu treffen, Lage und Regeln von allen Seiten zu beleuchten und offen zu diskutieren, füreinander durchgehend erreichbar zu sein, erforderliche Maßnahmen mit der Firmenleitung abzustimmen und sich dabei letztlich immer vom gesunden Menschenverstand leiten zu lassen. Leitlinie ist, der Fürsorgepflicht gegenüber der Belegschaft und gegenüber seinen Partnern und Kunden gewissenhaft nachzukommen und mit Maßnahmen und Kommunikation einen gesellschaftlichen Beitrag zur Pandemiebekämpfung zu leisten. Möglichst nicht erst, wenn die entsprechende Vorordnung verabschiedet ist. Das schafft Vertrauen und Stabilität und erhält die Produktivität.

Coronapandemie: Warum die vierte Welle auch in Betrieben so unterschätzt wurde

Haufe Online-Redaktion: Doch tatsächlich haben sich nur wenige Unternehmen, meistens die mit sowieso schon großer Sachkenntnis, in puncto Hygieneregeln und Abstand eigene Expertise aufgebaut und geschaut, dass sie möglichst gut durch die Krise kommen. Warum fällt das so vielen Unternehmen schwer?

Lotzmann: Auch Führungskräfte in Unternehmen sind ein Querschnitt durch die Bevölkerung. Etwas zu akzeptieren oder dagegen anzugehen, zu ignorieren, auszusitzen oder auch Fake-News anzuhängen, hat nicht unbedingt etwas mit Bildung oder Status oder Einkommen zu tun. Warum sollte das bei der Unternehmensführung anders ein? Und, das ist auch Natur des Menschen, man ist tendenziell konsequenzscheu und konfliktscheu. Wer am Arbeitsplatz die Regel ausgibt "alle immer mit Maske" oder "nur geimpft oder getestet", muss zunächst bereit sein, sich selbst daran zu halten und dann auch mit denjenigen in den Konflikt zu gehen, die das nicht einsehen wollen. Konfliktmanagement und vertrauensbildende Kommunikation mit der Belegschaft sind aber nicht unbedingt Stärken in jedem Unternehmen.

Haufe Online-Redaktion: Und erklärt das auch, dass diese vierte Welle so unterschätzt wurde? Viele Unternehmen hatten ja schon wieder "Back to Office" ausgerufen, obwohl schon im September einzelne Experten aufgrund der neuen Studienlage vor einer vierten Welle gewarnt hatten.

Lotzmann: Ja, zumindest ergibt sich das auch aus dem Vorigen. Es ist menschlich. Wir alle wollen, dass diese Pandemie endlich aufhört. Dann lechzt man natürlich nach Anzeichen für ein Ende. Und wenn man keine Taskforce hat, die sich über Primärquellen informiert, ist es leicht, positive Zeichen zu sehen, zumal ja von einflussreichen Politikern, völlig gegen den gesunden Menschenverstand übrigens, das Ende des Nationalen Notstandes angekündigt war. In unserer Taskforce sehen wir nicht nur auf die aktuellen allgemeinen Infektionsdaten, sondern auch auf die spezifische Virusentwicklung und auf entsprechende Hochrechnungen. Da fällt es uns natürlich entsprechend schwerer, das Ganze schön zu reden. Aber die Versuchung sehen wir natürlich auch. Gerade letzte Woche haben wir in der Taskforce nochmal deutlich darüber gesprochen, dass wir die im Haus wahrgenommene Hoffnung auf eine Ende der Pandemie Mitte des nächsten Jahres nicht teilen können. Es wird höchstwahrscheinlich, gerade mit Omikron, nochmal eine Welle geben. Wir reden von 2023, bis die Pandemie durch ist.

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Haufe Online-Redaktion: Ist das Ihre Prognose: Ein Ende der Pandemie nicht vor 2023?

Lotzmann: Damit ist zu rechnen. Ich würde mich freuen, wenn es nicht so wäre. Aber Omikron wird großer Wahrscheinlichkeit nach seinen Siegeszug antreten. Wir werden also nochmal eine neue Impfwelle brauchen, die Omikron einbezieht; bis dann alle geimpft sind, ist das Jahr 2022 vorbei. Und auch das hängt davon ab, wie viel Zeit das Virus weltweit bekommt, um wieder mit einer neuen Variante zu kommen.

Pandemie: Ratschläge für Unternehmen

Haufe Online-Redaktion: Wie können Organisationen jetzt daraus lernen? Sie sprechen von einer gesellschaftlichen Entwicklung – das dauert ja. Kann man denn jetzt als einzelner Unternehmensverantwortlicher überhaupt etwas verändern?

Lotzmann: Natürlich. Eine Betrieb hat als Organisation zunächst sogar bessere Möglichkeiten zu lernen und Erfahrungen umzusetzen, da die Entscheidungsfindung einfacher und schneller ist als in einer demokratisch organisierten Gesellschaft mit noch dazu einer dezentralen Entscheidungskultur. Vertrauen der Geschäftsleitung und, so vorhanden, der Arbeitnehmervertretung zu einer engagierten und kompetenten Taskforce ermöglicht es, die Pandemie ordentlich zu managen. Wichtig ist es, auch von anderen Unternehmen zu lernen, also sich regelmäßig auszutauschen, innerhalb der eigenen Branchenverbände oder innerhalb anderer Vereinigungen oder Netzwerke.

Analog könnte die Politik auch von der Wirtschaft lernen. Doch obwohl einige Großunternehmen im Pandemiemanagement führend sind, ist meines Wissens bisher noch niemand von öffentlicher Seite an uns oder sie herangetreten, um nach den vielfältigen Erfahrungen und Ideen zur Verbesserung des öffentlichen Pandemiemanagements zu fragen.

Coronastrategien: Was die Politik von Unternehmen lernen kann

Haufe Online-Redaktion: Was würden Sie denn antworten, wenn Sie von politischer Seite gefragt werden?

Lotzmann: Wir würden beraten hinsichtlich der Zusammensetzung, Moderation und Art der Zusammenarbeit und Entscheidungsfindung einer Taskforce.

Der Teufel, aber auch der Erfolg, steckt im Detail. Insbesondere die Kommunikation müsste sich dringend professionalisieren. Die Taskforce müsste im Detail durchdachte Formulierungen als Talking Points für die Politik und Öffentlichkeit herausgeben. Und dabei auf klare Linie, Augenmaß und gesunden Menschenverstand setzen.

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Und wir würden davor warnen, in den Sommermonaten Zeiträume zu definieren, in denen Vorsichtsmaßnahmen gänzlich entbehrlich sind. Das ist psychologisch unklug. Die Botschaft muss sein: Solange die Pandemie nicht beendet ist, gelten bestimmte Grundregeln. Die im Übrigen auch bei jeder winterlichen Grippewelle Sinn machen.  


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Schlagworte zum Thema:  Coronavirus, Risikomanagement