Leadership-Kolumne: Führung ohne Amt

Führen und Folgen sind die Grundlage gelingender Zusammenarbeit. Doch ihre Voraussetzungen unterliegen dem Wandel. Unser Leaderhip-Kolumnist Randolf Jessl beleuchtet diesmal die Frage: Spontan und ohne Auftrag andere führen - ist das okay?

Wir denken Führung als Aufgabe und Amt. Wir sehen Führung immer noch und überall verkörpert in Führungskräften. Wird das der Sache gerecht? Nein. Denn Führen und Folgen passiert. Einfach so. Und häufiger, als uns das bewusst ist.

Drei Beispiele für Führung ohne Amt aus dem Alltag

Eine Diskussion im Meetingraum. Es geht hin und her. Und wieder ist es Clarissa, die Impulse gibt, die Dinge richtig einordnet und Lösungen anbietet. "Kannst Du mir folgen?", fragt sie ihr skeptisches Gegenüber, wenn es tief in Detailfragen hineingeht.  Am Ende bringt sie die Gruppe hinter ihren Vorschlag. Clarissa ist nicht der Chef in dieser Runde.

Eine Initiative wird angestoßen. Die war nicht angeordnet. Heiner sah den Verbesserungsbedarf, hatte die Idee zur Lösung, schart Leute um sich, holt sich bei den Vorgesetzten das Okay für die Realisierung und setzt sie mit der bunt zusammengewürfelten Truppe aus Freiwilligen um. Heiner ist kein Chef, weder im Alltag, noch in diesem Projekt.

Ein Befreiungsschlag tut not. Die Abteilung weiß nicht, wie der Lieferengpass zu beheben wäre. Etliche Diskussionen liefen ins Leere, externer Rat half auch nicht weiter. Miriam wird die Lösung zugetraut. Sie kennt die Materie, hat Beziehungen und ist ein schlauer Kopf. "Übernimm das bitte und sag, was Du von uns brauchst". Miriam geht voran und alle folgen. Doch Miriam ist nicht die Chefin.

Was passiert hier? Hier passiert Führung. Jenseits von Aufgaben und Ämtern und Titeln. Und das ist gut so.

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Warum jeder führen und folgen muss

Wir lernen: Mehr Menschen, als formell dazu bestimmt sind, können führen. Warum ermuntern wir sie dazu nicht konsequenter?

Die Antwort: Weil Führung immer noch Chefsache ist. Und das hat seinen Grund. Formelle Führungskräfte zu bestimmen, erleichtert das Handwerk des Entscheidens, Delegierens, Durchsetzens. Und es klärt für alle sichtbar, wer es auszuüben hat. Der Chef kann etwas anweisen, mit Sanktionen durchsetzen, die Chefin übernimmt formal die Verantwortung im Rahmen der Governance und schlichtet Konflikte. Das hat, wie in einer früheren Kolumne unter dem Titel "Hierarchie: Nicht heilig, aber hilfreich" ausgeführt, absolut sein Gutes.

Doch es darf unser Führungsverständnis nicht bestimmen. Heute, wo wir mit immer komplexeren Herausforderungen, mit Spezialfragen und ausdifferenzierten Wissensgebieten zu tun haben, umso mehr. Jede und jeder muss führen und folgen. In wechselnden Konstellationen und das immer häufiger. Nur so werden Unternehmen flexibel, nur so bildet sich Eigeninitiative heraus, wird Verantwortung übernommen und sichergestellt, dass jeweils die Person mit der besten Expertise und dem meisten Rückhalt die Richtung bestimmt.

Wenn jeder führen und jeder folgen soll, braucht es ein Gespür, wie Führungskraft sich zeigt und ausbildet. Und das nicht nur bei den Kolleginnen der Personalentwicklung oder der direkten Vorgesetzten. Gruppen entscheiden immer häufiger selbstbestimmt darüber, wer führt und wer folgt.

Woran jeder Führungskraft erkennt

Wie die Beispiele oben veranschaulichen, zeigt sich Führungskraft in einer Kette von Aktionen. Sie zeigt sich in Worten, Taten und Ideen einzelner, die andere überzeugen und zum Folgen animieren. Sie zeigt sich auch im Auftreten und der Haltung von Menschen, die sich exponieren und so in Führung gehen. Das gilt es für jene, die folgen wollen, zu beurteilen. Und es gilt für jene, die führen wollen, zu demonstrieren.

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Was muss sich ändern, damit Führung ohne Amt möglich ist?

Wenn wir also wollen, dass jede/r führt und folgt, dann müssen wir nicht die Hierarchien schleifen und die Chefs abschaffen. Aber wir müssen einiges in der Kultur und in den Personalentwicklungssystemen unserer Unternehmen verändern.

  • Laterale Führung, also Führung ohne Weisungsbefugnis, wird zur grundlegenden Kompetenz aller und zum vorherrschenden Leadership-Modell im Unternehmen. Für die Personalabteilung geht es dann vorrangig um die Entwicklung von Führungskraft in der Breite und weniger um die Entwicklung einer Führungselite in Management-Development-Programmen.
  • Autorität wird zur Messlatte aller, um zu bestimmen, wann es lohnt zu folgen, und wem man zutraut zu führen. Sie zeigt sich daran, ob jemand mehr weiß und kann in der fraglichen Aufgabe, ob diese Person in Haltung und Auftreten andere zum Mitmachen gewinnt und ob sie kraft Erfahrung und Netzwerk auch Dinge für die Gruppe ihrer Follower bewegen kann. Dafür gilt es zu sensibilisieren.
  • Auch in der formalen Hierarchie muss Autorität anders gelebt werden. Wer führt, tut das nicht autoritär, sondern autoritativ. Chefs, die Vorbild sein und Kultur prägen wollen, nehmen auch ihre formale Rolle wo immer möglich autoritativ wahr. Das erfordert, dass sie sich trotz Rang und Stellung zurücknehmen, wenn andere mehr wissen, mehr können oder die besseren Ideen haben. Auch sie versuchen wie laterale Führungspersonen zu überzeugen statt anzuweisen, Mitmacher zu gewinnen statt zu verpflichten. Dies gilt es, traditionellen Hierarchen mit Nachdruck klar zu machen.
  • Die Übernahme von formalen Führungsaufgaben ist in Unternehmen, wo jeder führt und folgt, dann noch stärker daran zu knüpfen, dass die Kandidatin für einen Chefposten ihre Führungskraft im Alltag bereits bewiesen hat, dass der Kandidat schon Gefolgschaft in Projekten oder Initiativen gewinnen konnte. Dazu sollten Unternehmen Gelegenheiten, Bühnen und Freiraum bieten. Und sie müssen die Auswahl der Führungskräfte aus den Hinterzimmern und Assessment Centern wieder stärker auf die Vorderbühne verlagern.

Je öfter Führungskraft sich im Alltag zeigt und zeigen kann, desto eher wird der Wandel hin zu einer solcherart autoritativen Unternehmenskultur, wo jeder führt und jeder folgt, gelingen.


Randolf Jessl ist freier Journalist und Inhaber der Kommunikations- und Leadershipberatung Auctority. Er unterstützt Menschen in Organisationen und auf Märkten, dank ihres Wissens und ihrer Ideen in Führung zu gehen.

Schlagworte zum Thema:  Leadership, Mitarbeiterführung