Führung: Paranoia hilft als Führungskraft effektiver zu sein

Paranoia fördert die Führungskarriere, so das Ergebnis einer Studie von Psychologe Niels Van Quaquebeke. Im Interview mit der "Wirtschaft + Weiterbildung" erklärt er, warum ein großes Misstrauen und eine hohe soziale Anpassungsfähigkeit karrierefördernd sein und Chefs effektiver machen können.

Wirtschaft + Weiterbildung: In Ihrer Studie haben Sie den Zusammenhang von paranoidem Denken und Karriereerfolg untersucht. Wie sind Sie darauf gekommen?

Niels Van Quaquebeke: Das waren zunächst einmal persönliche Erlebnisse. Ich habe mich manchmal gefragt, wie es sein kann, dass eine Führungskraft ausgesprochen paranoid agiert. Aber dann habe ich beobachtet, dass genau solche Führungskräfte sehr erfolgreich waren. Das hat mich fasziniert. Aber ich habe keine Forschung dazu gefunden. Einen Aha-Effekt hatte ich dann, als ich mir die Forschung zum Thema Self-Monitoring, also zu sozialer Anpassungsfähigkeit, angeschaut habe.

Wirtschaft + Weiterbildung: Menschen, bei denen diese stark ausgeprägt ist, haben einen hohen Reflexionsgrad über sich selbst und passen sich geschickt dem sozialen Umfeld in Organisationen an. Das spült sie dann quasi nach oben. Aber soziale Anpassungsfähigkeit ist doch etwas anderes als Paranoia?

Van Quaquebeke: Das sind im Grunde genommen zwei Facetten derselben Fähigkeit. Nur hat der sozial Anpassungsfähige ein freundliches Menschenbild, der Paranoide dagegen ein negatives Menschenbild. Er interpretiert die Dinge anders. Denn er geht immer vom Schlimmsten aus und beobachtet deshalb alles sehr genau. Paranoide Menschen sind daher extrem anpassungsfähig, richten ihr Fähnchen schnell nach dem Wind aus, sichern sich gegen Feinde ab oder gehen neue Koalitionen ein. In meiner Studie habe ich denn auch entsprechend gefunden, dass eine mangelnde soziale Anpassungsfähigkeit durch eine paranoide Persönlichkeitsstruktur kompensiert werden kann, wobei wir hier immer von einer subklinischen, also milden Form der Paranoia sprechen.

Wirtschaft + Weiterbildung: Wie definieren Sie Paranoia?

Van Quaquebeke: In der klinischen Psychologie ist Paranoia ein seit Langem bekanntes Störungsbild, das gekennzeichnet ist durch ein lang anhaltendes und durchdringendes Misstrauen anderen gegenüber. Laut WHO müssen für eine Diagnose der paranoiden Persönlichkeitsstörung drei von sieben Merkmalen zutreffen. Dazu gehören eine hohe Sensitivität gegenüber Zurückweisungen, ein ständiger Groll auf andere sowie eine andauernde Beschäftigung mit unbegründeten "konspirativen" Erklärungen für Ereignisse. Paranoide Gedanken sind allerdings weit verbreitet und keineswegs immer pathologisch.

Wirtschaft + Weiterbildung: Wie würden Sie paranoide Führungskräfte beschreiben?

Van Quaquebeke: Sie haben ein ausgeprägtes Kontrollbedürfnis. Sie kontrollieren die Arbeiten ihrer Mitarbeiter manchmal sogar mehrmals, damit ihnen ja niemand etwas anhängen kann. Das sind keine Führungskräfte, die ihre Mitarbeiter befähigen oder ihnen Freiräume geben. Sie denken in feindlichen und negativen Szenarien. Und sollte der befürchtete Fall eintreten, reagieren sie schnell und gehen zum Beispiel neue Koalitionen ein. Aus Freund wird Feind, und der Feind meines Feindes wird mein Freund. Für ihre Absicherung arbeiten solche Führungskräfte zudem auch sehr viel. Da geht es dann darum, wie ich jemandem einen Gefallen tun kann, um mir so seine Loyalität zu sichern.

Wirtschaft + Weiterbildung: Und das macht sie so erfolgreich bei ihrer Karriere?

Van Quaquebeke: In unserer Studie haben wir 441 Angestellte in unterschiedlichen Bereichen befragt. Sie beantworteten Fragen zu ihrer Position im Unternehmen und zu der Zahl ihrer Mitarbeiter. Darüber hinaus füllten sie einen Fragebogen zu paranoiden Vorstellungen aus. Das Ergebnis zeigte, dass höhere Grundwerte in paranoiden Gedanken den Aufstieg im Unternehmen voraussagten und je höher die paranoide Ausprägung war, desto steiler war der Karriereerfolg.

Wirtschaft + Weiterbildung: Was bedeutet das für die Mitarbeiter eines paranoiden Chefs?

Van Quaquebeke: Das sind nicht per se böse Menschen oder ganz schlimme Vorgesetzte. Wenn ihre Mitarbeiter ihnen gegenüber hohe Loyalität zeigen, sind sie auch loyal. Anstrengend ist vor allem, dass ihre Sichtweise so schnell umschlagen kann. Sie sprechen auf dem Flur mit dem Mitarbeiter einer anderen Abteilung und schon sind Sie plötzlich ein Feind und ihr Chef ist überzeugt davon, dass Sie ihn hintergehen wollen. Oder der Abteilungsleiter einer anderen Abteilung erwähnt in einem Meeting Ihren Namen. Und sofort glaubt Ihr Chef: Da läuft etwas hinter meinem Rücken. Da gibt es ein ganz starkes Schwarz-Weiß-Denken und ehe man sich als Mitarbeiter versieht, wird man vom Freund zum Feind.

Wirtschaft + Weiterbildung: Wie kommt man da wieder raus?

Van Quaquebeke: Das ist deutlich schwerer. Da hilft nur ein Gang nach Canossa und ihm mit Worten und Taten seine Hyperloyalität zu signalisieren, damit er sich wieder in Sicherheit wähnt. Sie müssen ständig Loyalitätsbeweise vorlegen und das macht die Zusammenarbeit mit solchen Chefs so mühsam.

Wirtschaft + Weiterbildung: Das ist aber auch stressig ...

Van Quaquebeke: Ja, auch für die ist es total anstrengend, denn sie haben keinerlei soziale Sicherheit und die ist nun mal ein menschliches Grundbedürfnis. Ihr Stresslevel ist hoch und sie geraten schnell in die typische Burn-out-Spirale. Hier sehe ich auch einen Ansatzpunkt, wo die Personalabteilung diese Führungskräfte dabei unterstützen könnte, mehr auf ihre Gesundheit zu achten. Natürlich hilft auch eine Unternehmenskultur, in der man auch Fehler machen oder Schwäche zeigen kann. Da können sich auch paranoide Menschen etwas entspannen. Ganz wichtig für sie ist es, dass sie zumindest im privaten Bereich soziale Sicherheit haben, also in der Familie oder beim Partner.

Wirtschaft + Weiterbildung: Wäre da nicht eher eine psychotherapeutische Behandlung sinnvoll?

Van Quaquebeke: Das kommt natürlich auf die Ausprägung des paranoiden Denkens an. Allerdings würde ich jedem raten, in diesem Fall nicht zum Coach, sondern zu einem ausgebildeten Psychotherapeuten zu gehen. Da ist ein normaler Business Coach schnell überfordert. Paranoide Gedanken kann man man gut mit kognitiven Psychotherapien angehen.

Wirtschaft + Weiterbildung: Laut Ihrer Studie steigen paranoide Führungskräfte schneller auf. Aber sind sie auch besser und effektiver?

Van Quaquebeke: Bei Studien zum Thema Leadership kann man zwei wesentliche Richtungen unterscheiden. "Leader Emergence", also die Frage, wer wird Führungskraft. Hier ist meine Studie angesiedelt. Die anderen Studien befassen sich mit "Leader Effectiveness", also der Frage, was eine Führungskraft effektiv macht. Meine Spekulation geht in die Richtung, dass Paranoia auch hilft, als Führungskraft effektiver zu sein. Doch dazu gibt es bisher noch kaum Forschung. Wir machen daher zusammen mit dem Personalberater Mercuri Urval ein vierjähriges Forschungsprojekt, bei dem wir herausfinden wollen, welchen Effekt der Aufstieg auf Führungskräfte hat. Was passiert, wenn jemand erste Führungsverantwortung übernimmt? Welche Wirkung hat das auf die Persönlichkeit? Wie wirkt sich das auf seine psychische Gesundheit aus? Wie verändert sich das Verhalten durch eine Beförderung? So habe ich in meiner derzeitigen Studie bereits herausfinden können, dass das paranoide Denken durchaus abnimmt, wenn man aufgestiegen ist. Das klingt zunächst einmal paradox, weil dann potenziell auch mehr Königsmörder lauern. Aber der Aufstieg ist für den Betroffenen auch eine Bestätigung, dass das Unternehmen ihn schätzt und das könnte – mindestens kurzfristig – zu einer Entspannung führen.

Wirtschaft + Weiterbildung: Ist paranoides Denken in unserer schnelllebigen Zeit nicht sogar notwendig?

Van Quaquebeke: Das Denken in den schlimmsten Szenarien ist sicher nicht generell dumm, schon gar nicht, wenn man als Führungskraft strategische Verantwortung hat. Denn was passiert, wenn mein Wettbewerber plötzlich von einem chinesischen Unternehmen aufgekauft wird und damit über ein enormes Investitionskapital verfügt? Eine andere Frage ist, ob die Unternehmen sich nicht selbst paranoide Mitarbeiter heranziehen. Der psychologische Vertrag, bei dem das Unternehmen Leistung und Loyalität gegen Gehalt und Sicherheit tauscht, gilt heute nicht mehr. Und entgegen vieler Beteuerungen wird heute immer seltener mit offenen Karten gespielt. Wenn heute jemand glaubt, andere sägten an seinem Stuhl oder er werde von seinem Chef nur als Bauernopfer benutzt, ist das oftmals nicht weit hergeholt. Da muss man sich durchaus fragen, ob die Paranoiden in großen Organisationen manchmal nicht sogar die Realisten sind.  

Niels Van Quaquebeke lehrt und forscht als Professor für Leadership und Organizational Behavior an der Kühne Logistics University in Hamburg.

Das Interview führte Bärbel Schwertfeger, freie Journalistin in München.

Dies ist ein Auszug aus Ausgabe 01/2017 der " Wirtschaft + Weiterbildung".