Debatte: Müssen wir mehr leisten?

In Deutsch­land eine Dis­kus­sion da­rüber entbrannt, ob es an der Leistungs­be­reitschaft der Be­schäf­tigten mangelt. Wir stehen vor einer Weichenstellung: Müssen wir uns wieder mehr an­strengen, um unseren Wohlstand zu erhalten? Müssen wir alte Instrumente der Leistungsbewertung reaktivieren? Wir haben uns bei zehn Persön­lich­keiten der HR-Szene umgehört.

 "In Deutschland mangelt es an Leistungsdenken", formulierte SAP-CEO Christian Klein im November 2023 in einem Interview mit einer großen Tageszeitung. Wenige Tage später wurde publik, welche Konsequenzen er aus seiner persönlichen Einschätzung für die über 100.000 Beschäftigten seiner Firma ableiten will. In den Tarifgesprächen mit der Gewerkschaft stellte er die Forderung auf, die individuelle Leistungsbeurteilung für alle Mitarbeitenden einzuführen. Die Führungskräfte sollen diese in drei Leistungsklassen (Performer, Achiever, Improver) einteilen. Zudem sollen wieder drei verbindliche Bürotage festgeschrieben werden. Mitten in den Tarifgesprächen wurde die Forderung geleakt, was zu einem Shitstorm mittlerer Größe führte. Das Vorhaben, Minderleistende systematisch zu identifizieren und in eine Gruppe einzusortieren, führte in den sozialen Medien zu heftiger Kritik, die meisten Kommentatoren der Wirtschaftspresse fragten sich, ob das nicht Managementmethoden aus dem vergangenen Jahrhundert seien.

Die SAP ist nicht nur das wertvollste deutsche Unternehmen, es war auch in der Personalpolitik sehr fortschrittlich und setzte in der Vergangenheit Trends, denen andere folgten. Doch hat Christian Klein bei seinem jüngsten personalpolitischen Vorstoß wirklich die Nase im Wind oder hat er sich gründlich verrannt, da die HR-Führungsriege bei SAP derzeit im Umbruch ist? 

Leistung zwischen New Work und Wirtschaftsflaute

Die Zeiten sind herausfordernd. Nur ein paar Eckpunkte: 

  • Seit der Coronakrise stagniert die deutsche Wirtschaft, die Politik betreibt Krisenmanagement und der Ukraine-Krieg hat die Standortfaktoren in Deutschland drastisch verschlechtert.
      
  • Der Aufschwung der 10er-Jahre ist vorbei, ebenso die Euphorie um New Work. Die Investitionen in Feel-Good-Maßnahmen, wie viele New Work missverstanden haben, haben meist nicht zur Stärkung der Innovationskraft der Unternehmen geführt. Ernüchterung macht sich in Managementkreisen breit. 
      
  • In den 10er-Jahren haben viele Unternehmen als Ausdruck von Agilisierung die Jahresmitarbeitergespräche abgeschafft. Regelmäßige Feedbackgespräche sollten die bessere Lösung sein. Große Firmen wie Bosch haben auch individuelle Boni in großem Umfang abgeschafft, die Erreichung von Team-, Bereichs- und Unternehmenszielen wurde die Basis von Bonuszahlungen.  

Die Redaktion des Personalmagazins greift die Debatte über Leistung auf und hat sich bei zehn Meinungsbildnern der HR-Community umgehört. Wir haben unsere Gesprächspartner  gefragt: Hat die Leistungsbereitschaft der Menschen wirklich abgenommen? Was verstehen Sie unter Leistung im beruflichen Kontext? Brauchen wir in den Unternehmen wieder die individuelle Leistungsbeurteilung? 

Wer mehr leisten will, muss Produktivität steigern

"Mehr leisten heißt für mich als Volkswirt mehr Produktivität pro Arbeitsstunde. Da stimme ich zu", sagt Prof. Dr. Enzo Weber, Makroökonom am Institut für Arbeitsmarkt und Berufsforschung (IAB) in Nürnberg. Im letzten Jahrzehnt wurde die Beschäftigung stark ausgebaut, das Produktivitätswachstum hinke dagegen hinterher. "Wir müssen bei der Steigerung der Produktivität  wieder in die Gänge kommen", sagt Weber. 

Für die schwache Produktivität sieht er folgende Ursachen: "Einerseits leisten wir uns einen großen Niedriglohnsektor, der wenig produktiv ist. Und wir beschäftigen Millionen von Mini-Jobbern, von denen viele gerne mehr arbeiten würden", so Weber. Andererseits gab es eine Pause bei den Technologiewellen und bei der Digitalisierung liege Deutschland deutlich zurück. "Wir sind nur Mittelmaß. Das entspricht nicht den Ansprüchen, die Politik und Wirtschaft formulieren." 

"Wir haben im letzten Jahrzehnt die Beschäftigung stark ausgebaut, das Produktivitätswachstum hinkt hinterher. Es gibt Handlungsbedarf."
Enzo Weber, Professor und Leiter Prognosen und gesamtwirtschaftliche Analysen am IAB

Bei den Arbeitszeiten beobachtet er den Trend, dass die Menschen weniger arbeiten wollen. "Viele Vollzeitbeschäftigte wollen die Arbeitszeit verkürzen, die meisten wollen aber keine Vier-Tage-Woche." Der Hauptwunsch sei, selbstbestimmter arbeiten zu können. "Viele wollen eine Wahlarbeitszeit, die im Verlauf des Erwerbslebens angepasst werden kann." Die junge Generation (Gen Z) sei genauso leistungsbereit wie frühere Generationen, auch bezüglich Arbeitgeberwechsel gebe es keine Unterschiede im Vergleich zu früheren Generationen", so Weber. Die Erzählungen, die in vielen Medien kursieren, passten nicht zu den empirischen Daten. Das Engagement im Job und die Bindung an den Betrieb sei im Zeitverlauf rückläufig. Das gelte für alle Generationen. "Hier gibt es ein Problem, um das wir uns kümmern müssen”, so Weber. Dass sich die Menschen bei der Mobilarbeit wieder mehr an die Bedürfnisse der Organisation anpassen sollen, wie das manche Arbeitgeber erwarten, sieht er als eine normale Entwicklung. 

Deutschland muss wieder mehr leisten. Davon ist Enzo Weber überzeugt. Dabei würde es nicht nur um die Anstrengung der Beschäftigten gehen, sondern um alle Faktoren, die optimiert werden müssen, um in der Produktivität zuzulegen. Neue Technologie wie KI sowie die ökologische Transformation würden große Chancen bieten, um das Land nach vorne zu bringen. "Wir brauchen Klasse statt Masse”, so Weber. 

Betriebe müssen einen Rahmen für mehr Leistung schaffen

"Wir müssen uns mehr anstrengen, um unseren Wohlstand zu erhalten“, sagt Oliver Sowa, Geschäftsführer der Beutlhauser-Gruppe, einem Investitionsgüterhändler mit rund 1.500 Mitarbeitenden und über 500 Millionen Euro Jahresumsatz. Damit meint er jedoch nicht in erster Linie die Einzelnen, sondern vor allem die Unternehmen und ihre Führungskräfte. In der Regel seien die Mitarbeitenden gut ausgebildet und leistungswillig. Es gelte, nicht an ihnen herumzudoktern, sondern ihnen Leistungsmöglichkeiten zu geben, indem man entsprechende Rahmenbedingungen schaffe. Das bedeute: Alle Reibungsverluste und sinnbefreite Beschäftigungen eliminieren.

"Ein positiver Leistungs­begriff beginnt mit einem Menschen­bild, das Mit­arbeitende wie Er­wachsene behandelt."
Oliver Sowa, Geschäftsführer der Beutlhauser-Gruppe

Von einer Arbeitszeitverkürzung als Viertagewoche, gar mit vollem Lohnausgleich, hält der Geschäftsführer des Familienunternehmens genauso wenig wie von generellen Rückrufen ins Büro. Leistungssteigerungen bringe das nicht. Wer mehr Regeln, Messbarkeit oder strengere individuelle Leistungsbeurteilung fordere, die womöglich sogar als Rangordnungsverfahren daherkommen, sei auf einem absoluten Holzweg. "So etwas ist Versagen von Führung“, sagt Sowa. Man schiebe die Verantwortung für Leistung nur auf die Mitarbeitenden und habe selbst seine Hausaufgaben nicht gemacht – von den negativen Folgen für das Teamgefüge, das Fehlermanagement und die Innovationsfähigkeit einmal ganz abgesehen. 

"Brandreden, Appelle, Moralpredigten oder Townhall-Meetings zum Einschwören auf Leistung – das bringt uns nicht weiter. Ein positiver Leistungsbegriff beginnt mit einem Menschenbild, das alle wie Erwachsene behandelt.“ Die Beutlhauser-Gruppe hat deshalb vor einigen Jahren eine Unternehmenstransformation angestoßen, die einem systemischen Ansatz folgt. Die Entscheidungen sollen zu ganz großen Teilen da getroffen werden, wo die Arbeit gemacht wird: bei den Fachleuten. Das habe mit Vertrauen zu tun. Führungskräfte müssten loslassen lernen und sich verletzbar machen. Sie dürften aber auch Konflikte nicht scheuen und müssten schwierige Themen offen ansprechen. Hinzu komme die Fokussierung auf das, was Wert für Kunden schafft. Dafür genügten aber grobe, richtungsweisende Ziele, wie zum Beispiel der Umsatz. Auch Oliver Sowa kennt die Fairnessdiskussionen, wenn sich jemand mal zu sehr in die Hängematte legt. Aber das regle meistens das Team unter sich. "Der Konkurrenz, die aus China auf uns zurollt, können wir nur durch eine echte Transformation unserer Strukturen und Prozesse begegnen. Und diese Transformation ist ein gesellschaftliches Thema.“

Menschen wollen Gutes leisten

"Die Leistungsbereitschaft der meisten Menschen ist hoch – ebenso wie der Leistungsdruck", meint Rebecca Koch, Chief People Officer von DB Schenker. Zwar habe sich bei manchen der Fokus auf Familie und Gesundheit verschoben. Aber oft geschehe das aus der Not heraus, beispielsweise bedingt durch die Übernahme von viel Care-Arbeit. "In Deutschland gibt es ein großes Missverhältnis zwischen der Ermöglichung von Arbeit und dem bürokratischen Aufwand, der von Menschen verlangt wird", beobachtet die Personalvorständin, die mehrere Jahre in Singapur verbracht hat. "Dort hatte ich ein ähnlich hohes Arbeitspensum wie hier in Deutschland, hatte aber mehr Zeit für meine Familie und konnte jeden Tag Sport treiben."

Leistung dürfe nicht auf Arbeitszeit reduziert werden. Es gehe um den Output: einen positiven Beitrag zum Business. "Man kann das nicht in jeder Rolle 1:1 messen, aber deutlich mehr als das heute viele tun." Wer etwa Zufriedenheit mit Führungskräften, Fluktuationszahlen und Kosten im Recruiting in Relation setze, könne den Einfluss guter Führung auf den Unternehmensgewinn berechnen. Koch erinnert daran, warum man sich bei der Leistungsmessung und variablen Vergütung inzwischen mehr auf Teams und das Gesamtunternehmen fokussiert habe: weil diese gut funktionieren müssten, um in einer immer stärker vernetzten und komplexen Welt erfolgreich zu sein.

"Die Leistungsbereitschaft der meisten Menschen ist hoch – ebenso wie der Leistungsdruck."
Rebecca Koch, Chief People Officer Europe, Member of the European Management Board, DB Schenker

Damit jeder seinen Beitrag zum Gesamtziel kennt, hat DB Schenker Europe Objectives and Key Results (OKRs) eingeführt. Trotzdem dürfe man die Einzelleistung nicht ausklammern. Man könne bewerten, wie die Ziele erreicht werden und ob Mitarbeitende dabei die Unternehmenswerte leben. Darüber hinaus gelte es für jeden Job und jede Abteilung zu prüfen, wie man mehr Leistung ermöglichen könne – etwa durch Arbeitszeit- und Arbeitsortflexibilität. In herausfordernden Phasen reflexhaft eine Rolle rückwärts zu uneingeschränkter Anwesenheit im Büro zu machen, hält sie nicht für sinnvoll. Gerade in Zeiten des War for Talents würden sich die Mitarbeitenden für den Arbeitgeber entscheiden, der am flexibelsten auf ihre Wünsche eingeht. Ebenso bedeutsam für die Steigerung der Performance seien Digitalisierung, Automatisierung, Prozessharmonisierungen und der Erwerb neuer Kompetenzen der Mitarbeitenden.

Wenn Unternehmensziele auf dem Spiel stehen, zeige sich auch der Wert von Purpose-orientierter Führung. "Wenn Leistung für einen guten Purpose geschieht, heißt mehr Leistung eben auch mehr des Guten. Menschen wollen Dinge gut machen. Wir dürfen sie nur nicht demotivieren."

Leistungsdifferenzierung als ein Gebot der Fairness

Der Erfolg der deutschen Volkswirtschaft ist für Michael Kramarsch ein Erfolg von Leistung. Doch im letzten Jahrzehnt sei die Wertschätzung von Leistung abhandengekommen. "Das beginnt bei den Schulen, wenn bei den Bundesjugendspielen keine Punkte mehr vergeben werden und der Sinn von Noten in Zweifel gezogen wird. Der Leistungsanspruch wurde zurückgedrängt, das katastrophale Abschneiden bei der Pisa-Studie ist die Folge", so der Managing Partner der HKP Group. 

Auch viele Unternehmen hätten im letzten Jahrzehnt weniger Wert auf den individuellen Leistungsanspruch gelegt, individuelle Boni waren auf dem Rückzug. "Das ist ein deutscher Sonderweg", analysiert Kramarsch und sieht darin einen Zusammenhang zu der schwachen Entwicklung der Produktivität. Leistungsdifferenzierung ist für Kramarsch ein Gebot der Fairness. Wenn Person A mehr leistet als Person B, müsse sich das auch beim Gehalt ausdrücken. "Sonst wird Person A demotiviert und pendelt sich auf das Leistungsniveau von Person B ein", sagt Kramarsch. Manche Unternehmen hätten auf offizielle Potenziallisten verzichtet, dafür habe es inoffizielle gegeben. "Die meisten Organisationen haben einen Auslesecharakter nach oben, jeden Tag müssen Entscheidungen zur Besetzung von Positionen getroffen werden." 

"Der Fokus darf nicht darauf liegen, die Lahmen zum Laufen zu bewegen. Wir müssen denjenigen, die laufen, eine Wertschätzung zu ihrer Leistung geben."
Michael Kramarsch, Managing Partner HKP Group

Für Leistungsdifferenzierung sei der individuelle Bonus nur ein Weg, insgesamt müsse das System zum Aufgabenfeld und zum Unternehmen passen. "Wir haben bei HKP fast keine individuellen Incentives. Trotzdem haben wir eine hohe individuelle Leistungskultur – über Feedback, Karriereentwicklung und über Gehaltszuwächse", erläutert Kramarsch. 

Forced Rankings oder Performance-Improvement-Pläne seien in Amerika verbreitet, in Deutschland fehle die Akzeptanz. Dass in vielen Jobs objektive Kriterien für die Leistungsmessung fehlen, darin sieht er kein Problem. "Leistungsfeedback ist Aufgabe des Führungsdialogs", erläutert er. Die Aufgabe der Führungskräfte sei es, die Mitarbeitenden weiterzuentwickeln. "Der Fokus darf nicht darauf liegen, die Lahmen zum Laufen zu bewegen. Wir müssen denjenigen, die laufen, eine Wertschätzung zu ihrer Leistung geben", erläutert er. Dadurch würde die Gesamtleistung steigen.

Leistung besteht aus Einzel- und Teamleistung

"Was wir leisten müssen, um unseren Wohlstand zu erhalten, ist eine wichtige Diskussion für unser Land", sagt Frank Kohl Boas, Personalchef der ZEIT und Vizepräsident des Bundesverbands der Personalmanager*innen. Dass unsere Volkswirtschaft unter Druck stehe, werde überall sichtbar, etwa durch das Aufkommen der chinesischen Autobauer. Am Arbeitsmarkt sei das noch kaum spürbar, weil der demografische Wandel den Arbeitsplatzabbau abfedere. "Einen mangelnden Leistungswillen der Menschen kann ich nicht erkennen. In meinem Umfeld wird viel geleistet, viele fühlen sich überlastet und erschöpft", erläutert der Personalmanager. Die wirtschaftlichen Schwachpunkte liegen vor allem bei den Standortfaktoren, beispielsweise bei zu viel Bürokratie und der unzureichenden Risikobereitschaft. "Wir müssen vor allem unsere Innovationskraft stärken." 

"Einzel- und Teamleistung sind ein Zusammenspiel. Am Ende gewinnt das beste Team."
Frank Kohl-Boas, Personalchef der ZEIT und Vizepräsident des Bundesverbands der Personalmanager*innen

Den Druck auf Einzelne zu erhöhen oder Leistungsmessung einzuführen, hält er für keine gute Idee. Gerade in der Wissensarbeit fehle für die Leistungsmessung vielfach der Maßstab. "Soll man die Leistung eines Redakteurs danach beurteilen, wie viele Clicks sein Artikel erzielt?", fragt er und verweist darauf, dass es zum Redaktionsprofil der ZEIT gehöre, auch Themen zu behandeln, die aus Redaktionssicht wichtig sind, auch wenn sie weniger Reichweite erzielen. Die Leistung des Einzelnen sei wichtig. In der Redaktion beispielsweise würde es Leitartikler geben, die eine Leserschaft an sich binden. Doch diese "Höchstleister" würden nicht den Erfolg der Organisation ausmachen. Ohne die Kollegen, die kritische Sparringspartner sind, das Layout planen und für die Verbreitung des Textes sorgen, könnten auch die Höchstleister keine Wirkung im Markt erzielen. "Einzel- und Teamleistung sind ein Zusammenspiel. Am Ende gewinnt das beste Team", so Kohl-Boas. Mit Forced Rankings oder der Einteilung in Leistungsklassen hat er vielfältige Erfahrungen gesammelt. Wenn die Einzelnen nur dafür belohnt werden, besser als die Kollegen zu sein, schwindet die Bereitschaft, Wissen, Erfahrungen und Fehler zu teilen. Das aber ist die Basis von erfolgreicher Kooperation."  

Leistungsgedanke statt Mittelmaß

Es sei wieder an der Zeit, mehr über Leistung zu sprechen, sagt Andrea Panzer-Heemeier, Managing Partnerin der Kanzlei Arqis. Nach ihrer Erfahrung habe nicht die individuelle Leistungsbereitschaft nachgelassen, sie sieht das Problem im gesellschaftlichen Diskurs. Leistung werde nicht mehr als etwas Positives gesehen, sondern zu häufig negativ dargestellt. "Wir trauen uns oft nicht mehr, die Leistungsfähigen herauszustellen, um die Schwächeren zu schützen. Wir verzichten auf Leistungsvergleiche und Belobigungen, damit fördern wir das Mittelmaß”, sagt sie.  

Das deutsche Arbeitsrecht leiste dazu seinen Beitrag. Es sei paternalistisch und komme aus einer Arbeitswelt, in der Arbeitnehmer vor Diskriminierung und Willkür geschützt werden mussten. Schutzrechte seien natürlich wichtig, insgesamt habe das Maß an Regulierung aber derart zugenommen, dass es zu einer Überforderung der Arbeitgeber führe. Zudem passe die Sichtweise des schutzbedürftigen Arbeitnehmers in der heutigen Arbeitsmarktsituation auch nicht mehr zur Realität. "Bewerber und Mitarbeiter treten dem Arbeitgeber heute vielfach selbstbewusst entgegen. Sie können sich die Jobs aussuchen", sagt die Arbeitsrechtlerin. Es sei sinnvoll, mehr auf die Eigenverantwortung und die Mündigkeit der Mitarbeiter zu setzen.

"Wir trauen uns oft nicht mehr, die Leistungsfähigen heraus­zustellen, um die Schwächeren zu schützen. Wir verzichten auf Leis­tungs­vergleiche und Be­lobigungen, damit fördern wir das Mittel­maß."
Andrea Panzer-Heemeier, Managing Partnerin Arqis

Insgesamt sei das Arbeitsrecht nicht von einem Leistungsgedanken getragen. Von Arbeitnehmern werde eine "Dienstleistung mittlerer Art und Güte” gefordert. Dies erwecke den Eindruck, "Mittelmaß" sei ausreichend. Gleichzeitig führe der richtige Gedanke der Gleichbehandlung zu einer Förderung des Mittelmaßes. Es herrsche vielfach die Ansicht vor, bei einer Besserbehandlung von High-Performern das Risiko einer Diskriminierung zu schaffen. Dabei gäbe es ausreichend Spielraum, Leistungsbewertungen vorzunehmen und daran auch Leistungsvergütungen zu knüpfen.
Panzer-Heemeier wünscht sich, dass sich das Land wieder auf seine Stärken besinnt. "Wir sind eine Leistungsgesellschaft. Dieses Selbstverständnis hat die deutsche Wirtschaft erfolgreich gemacht." Zur Leistung gehöre auch das Fordern, das wir wieder stärker betonen müssten. "In der Agenda 2010 war der Gedanke enthalten, in den letzten Jahren ging das etwas verloren." 

Performance Management ist nie problemfrei 

"Jeder Organisation hilft eine meritokratische Leistungskultur", sagt Prof. Dr. Dirk Sliwka von der Universität zu Köln. Das normative Ziel von Leistung sei der langfristige Unternehmenserfolg, zu dem die einzelnen Bereiche, Teams und Mitarbeitenden beitragen. Wie man diese Beiträge messe und anreize sei jedoch eine Philosophiefrage: "Vorstände müssen entscheiden, ob sie mehr auf das Individuum oder das Team setzen." Dabei beobachtet er einen Zykluseffekt: Die Methoden im Performance Management wechselten zwischen individualistischen und kollektiven Ansätzen. Die letzten Jahre ist das Pendel in Richtung kollektiver Ansätze geschlagen, jetzt könnte sich eine Umkehr andeuten. 

"Beide Wege sind nicht problemfrei." Unternehmen seien daher immer auf der Suche nach einer guten Balance. Individuelle Systeme sehen eine Leistungsbewertung vor, die ein Maß für variable Vergütung darstellt. Das könne Einzelleistung steigern. Das Problem: Da meist messbare Kriterien fehlen, müsse man auf subjektive Beurteilung setzen. "Dabei verletzt man oft Erwartungen von Menschen und setzt die mögliche Leistungssteigerung wieder aufs Spiel." Die meisten schätzten sich besser ein, als sie sind – vor allem Männer. Außerdem könne die Methode dem Teamgedanken schaden, insbesondere wenn man vorgibt, wie viele Mitarbeitende in bestimmte Leistungskategorien einzuordnen sind (Forced Ranking). Dann müsse man sogar damit rechnen, dass Teammitglieder gegeneinander arbeiten. Anders bei kollektiven Systemen: Hier sind Team- oder Unternehmensziele das Maß von Leistung. "Teamanreize funktionieren am besten, wenn sich Mitarbeitende stark mit dem Team identifizieren." Andernfalls könnten "Trittbrettfahrerprobleme" auftreten: Wenn sich Leistungsträger, die genauso viel verdienen wie die anderen, nicht angemessen entlohnt fühlten, neigten sie dazu, ihre Leistung herunterzuschrauben. Das könne ansteckend sein. 

"Nur über A/B-Testing kann man herausfinden, ob eine Maßnahme kausal zur Steigerung von Engagement führt."
Dirk Sliwka, Professor für Allgemeine Betriebswirtschaftslehre und Personalwirtschaftslehre an der Universität zu Köln

Welcher Ansatz optimal ist, hänge von den Rollen und Aufgaben ab. Jede Methode stelle andere Anforderungen an Führungskräfte. Es seien Interventionen nötig, die dazu führen, dass Führungskräfte das Performance-Management-System richtig nutzen. Sliwka rät, sich bei der Wahl der Methode nicht von Modewellen leiten zu lassen. Man müsse vor allem nicht gleich im gesamten Unternehmen eine Methode einführen, sondern könne sie erst pilotieren. "Nur über A/B-Testing kann man herausfinden, ob eine Veränderung im Performance Management auch kausal zur Steigerung von Engagement im spezifischen Kontext führt", sagt der empirisch arbeitende Personalforscher.

Leistungsbewertung ist vielfach von einem Bias geprägt 

"Wenn sich Leistung wieder lohnen soll, wie viele aktuell fordern, müssen wir uns fragen, welche Leistung wir eigentlich meinen", so Prof. Dr. Antoinette Weibel von der Universität St. Gallen. Pflichterfüllung, lange Arbeitszeiten oder Präsenz in der Firma genügten nicht. "Ein adäquater Leistungsbegriff zielt auf Exzellenz. Es geht nicht nur um bessere Lösungen für Kunden, sondern um nachhaltige, die zum Aufblühen der Menschen beitragen."

Doch mit großer Regelmäßigkeit tappten vor allem Konzerne in die Falle: "Aktionäre werden ungeduldig, das eigene Menschenbild ist doch eher das des Homo Oeconomicus und manchmal kommt von HR (leider) die Weisheit: unsere Führungskräfte scheuen vor ernsthaften Gesprächen und Ermahnungen zurück. Und zack – raus die Keule ‚Forced Ranking‘". Oft teile man dabei die Mitarbeitenden nach vorgegebenen Mengenverhältnissen in Leistungskategorien ein. Laut Weibel gebe es genügend Evidenz, die dagegenspricht. "Bei Rangordnungsverfahren bleiben diejenigen, die die Ellenbogen ausfahren können. Und es gehen die, die knapp nicht als Topleister eingestuft werden, aber Potenzial haben." Positive Auswirkungen auf den Unternehmenserfolg? "Nicht nachweisbar", meint Weibel. Vor allem über die Zeit wirkten solche Systeme toxisch und zerstörten jede Vertrauenskultur.

"Menschen im Topmanagement halten sich häufig für Super­leister – je weiter oben desto besser die Ein­schätzung."
Antoinette Weibel, Professorin für Personalmanagement am Forschungsinstitut für Arbeit und Arbeitswelten der Universität St. Gallen

Ein großes Problem der Leistungsbewertung sieht die Professorin darin, dass Leistung schwer messbar und einzelnen Personen zuordenbar sei. Da helfe auch People Analytics und KI nicht. Führungskräfte, die Leistung einschätzen sollen, würden oft Opfer ihrer Vorurteile. Häufig gebe es Hierarchie- und Präsenzbiases: "Menschen im Topmanagement halten sich häufig für Superleister – je weiter oben desto besser die Einschätzung. Und wenn sie Mitarbeitende bei der Arbeit im Büro sehen, schätzen sie ihre Leistung besser ein."

Immer dann, wenn man mit Management-Allheilmitteln daherkomme, sei etwas faul, warnt Weibel. So sieht sie etwa Ansätze von Employee Experience kritisch, die schöne Erfahrungen vorgaukelten, aber im Grunde Menschen manipulieren und dressieren wollten. Auch rein systemische Ansätze, die alles aus dem Weg räumen, was Menschen bei Leistung im Weg stehe – wie etwa hierarchische Silos oder bürokratische Prozesse – seien noch immer sehr mechanistisch. Es brauche eine Entwicklungsinitiative für Führungskräfte. Statt oberflächlichem Instrumenten- und Methodenwissen müssten sie lernen, Dinge zu hinterfragen und Unternehmen als Institutionen mit gesellschaftlicher Verantwortung zu begreifen. Denn für wirkliche Exzellenz müssten Menschen ihr volles Potenzial einbringen. "Das ist ein viel härterer Leistungsbegriff als wir ihn bisher kennen. Es ist der schwierigere Weg. Aber wenn wir Wohlstand erhalten möchten, gibt es keine Alternative."

Positiver Leistungsbegriff ist tief im Menschen verankert 

Zu der Debatte über die nachlassende Leistungsbereitschaft der Deutschen hat Thomas Ogilvie, Personalchef der DHL Group mit über 500.000 Beschäftigten, eine klare Haltung. "Ich stimme der These nicht zu. In meinem Unternehmen kann ich solche Entwicklungen nicht beobachten." Auch dem Narrativ, die junge Generation sei freizeitorientiert und würde sich im Job weniger engagieren, widerspricht er deutlich. "Es mag Einzelfälle geben, die großen Wert auf Freizeit legen. Es gibt andere, die sich richtig reinhängen. Das entspricht vermutlich der Gaußschen Normalverteilung einer jeden Generation." 

Deutschland habe kein Leistungsproblem, die Debatte führt er auf die Unsicherheit im Lande zurück. Die politische und wirtschaftliche Situation sei instabil, auch die persönliche Lebensplanung der Menschen habe sich verändert. "Lebensläufe, in denen sich Leistung manifestiert, sind heute weniger vorhersehbar und strukturiert", erläutert Ogilvie und verweist auf das Konzept der Tätigkeitsgesellschaft. Die Leistung eines Menschen drücke sich nicht allein in der beruflichen Karriere, sondern auch an der Teilhabe am Familienleben oder in der Gesellschaft aus.  

"Es gibt keine nach­lassen­de Leistungs­bereitschaft. Die Debatte ist Ausdruck von Unsicher­heit."
Thomas Ogilvie, CHRO DHL Group und Vorstandsmitglied der DGFP

Für den Psychologen ist Leistung etwas grundsätzlich Positives. Leistung sei das intrinsische Bedürfnis eines Menschen, sich Herausforderungen zu stellen, die bewältigbar sind. Wenn Einzelne etwas erreichen, führe das zu Selbstzufriedenheit. "Dieser positive Leistungsbegriff ist nicht generationsabhängig, sondern tief im Menschen verankert." 

In der DHL Group gibt es ein Performance-Management-System, das in seiner Grundstruktur seit vielen Jahren feststeht.  Es gebe Unternehmens-, Bereichs- und Individualziele, die je nach Verantwortung unterschiedlich gewichtet seien. Dabei sei der Dialogprozess. "Wir wollen damit auch bereichsübergreifend Talente sichtbar machen", erläutert Ogilvie. Schließlich gehe es darum, "Roh-Diamanten” zu schleifen, die anspruchsvolle Führungsaufgaben in der Group übernehmen können. 

Familienarbeitszeit ist deutlich gestiegen

Von New Work haben sich Unternehmen eine Leistungssteigerung versprochen. Dass dies bislang nicht immer gelungen ist, hat laut Prof. Dr. Carsten Schermuly von der SRH Hochschule Berlin unterschiedliche Gründe. "Viele haben den Begriff instrumentalisiert und banalisiert", sagt er. Homeoffice, Open Spaces oder Feelgood-Management führten nicht per se zur Leistungssteigerung. "New Work ist anstrengend und kein Happy Work."

"Wenn ich mit Menschen aus Unternehmen ins Gespräch gehe, erlebe ich ganz unterschiedliche Vorstellungen von Leistung in ein und derselben Organisation." Aus psychologischer Sicht gebe es jedoch wichtige Unterscheidungskriterien. Leistung könne sich beispielsweise auf das Verhalten von Mitarbeitenden oder auf das Arbeitsergebnis beziehen. Bisweilen schaue man auch lediglich auf den Input verstanden als Arbeitszeit – und interpretiere den Wunsch, weniger Stunden zu arbeiten, gar als Faulheit. Dem hält er die Betrachtung der Familienarbeitszeit entgegen: Rechne man die Wochenarbeitsstunden von Männern und Frauen zusammen, lande man bei deutlich mehr als beim Alleinverdienermodell der Vergangenheit.

"In Bezug auf Zielrichtung und Kriterien von Leistung herrscht ein regelrechtes Chaos. Vor allem Führungskräfte brauchen ein einheitliches Verständnis von Leistung." Ausgehend davon, müsse man sich überlegen, welche Leistungsstrategie die richtige sei. Investiert man in Innovationsräume oder Leistungsmessung? Fördert man stärken- oder schwächenorientierte Leistungssysteme? Setzt man auf Vertrauen oder Kontrolle? Fördert man eine aggressive oder konstruktive Arbeitskultur?

"Wenn Menschen Sinn in ihrer Arbeit er­leben und selbstbestimmt entscheiden können – dann ist das leistungs­förderlich."
Carsten Schermuly, Professor für Wirtschaftspsychologie und Vizepräsident für ­Forschung und Transfer an der SRH Berlin University of Applied Sciences

Individuelle Leistungsmessung und -belohnung, wie sie aktuell wieder stark diskutiert werde, sei vor allem für einfache Aufgaben geeignet, deren Ergebnisse leicht messbar seien, keiner Kooperation bedürfen und Mitarbeitende nicht gerne tun. Prinzipiell müsse man sich bewusst sein, dass extrinsische Anreize intrinsische Motivation verdrängen können. Für kooperative und kreative Umfelder sei der Empowerment-Ansatz der richtige Weg, vor allem, weil dies extraproduktives Verhalten fördere: die Bereitschaft, die Extrameile zu gehen, statt Dienst nach Vorschrift zu leisten. "Wenn Menschen Sinn in ihrer Arbeit erleben, sie selbstbestimmt entscheiden können, Einfluss und Macht haben und sich kompetent fühlen – dann ist das leistungsförderlich und bringt langfristig Innovation."

Leistung ist multiperspektivisch

Wir, Stefanie Hornung und Reiner Straub, haben unterschiedliche Ansichten zum Thema. Stefanie ist von New Work geprägt, steht den Themen Anreize und Leistungsmessung eher kritisch gegenüber, ihre Arbeitszeit liegt aber weit über den Tarifstandards. Reiner ist im klassischen Management sozialisiert, steht den Themen offen gegenüber und lebt eine schwäbische Arbeitsethik. Wir haben nach den zehn Gesprächen, die wir geführt haben, folgende gemeinsamen Erkenntnisse gesammelt. 

  1. Das Thema Leistung ist meist emotional besetzt. Unsere Gesprächspartner waren gerne bereit, über dieses Thema zu sprechen, das sich bei der Vertiefung als komplex erweist. Jeder und jede hat einen eigenen Zugang, gepaart mit einer sehr persönlichen Einschätzung. 
       
  2. Fast alle Gesprächsteilnehmer teilen die Ansicht, dass sich Deutschland mehr anstrengen muss. Die Sorge, von USA und China abgehängt zu werden, ist in Managementkreisen offenbar weit verbreitet. Im Vordergrund stehen dabei die großen strukturellen Fragen: Bildung, Politik und Wirtschaft. Aufgabe von Unternehmen und HR ist es, attraktive Rahmenbedingungen zu schaffen, um Leistungserbringung zu ermöglichen. 
       
  3. Die These von der mangelnden individuellen Leistungsbereitschaft wird größtenteils verneint. Keiner der Befragten hat beispielsweise die Forderung des BDA-Hauptgeschäftsführers Steffen Kampeter unterstützt, dass die Arbeitszeiten in Deutschland verlängert werden sollten. Eine starre Viertagewoche lehnen alle ab, vielmehr stehen individuelle Modelle für die Verknüpfung von Erwerbs- und Familienarbeit im Vordergrund.
        
  4. In den 10er-Jahren waren individuelle Boni auf dem Rückzug, wie die Auswertungen des repräsentativen Linked Personnel Panels zeigten. Ob wir jetzt vor einem Wendepunkt stehen, darüber gehen die Meinungen auseinander. Repräsentative Zahlen gibt es derzeit noch nicht.

Dieser Beitrag ist erschienen in Personalmagazin 2/2024. Als Abonnent haben Sie Zugang zu diesem Beitrag und allen Artikeln dieser Ausgabe in unserem Digitalmagazin als Desktop-Applikation oder in der Personalmagazin-App.


Schlagworte zum Thema:  Performance-Management, New Work, Leadership