Rz. 50

Bei der Frage, ob die Vorschriften über anzeigepflichtige Massenentlassungen eingreifen oder nicht, ist die maßgebliche Einheit zu bestimmen, innerhalb derer der jeweilige Schwellenwert überschritten sein muss. Maßgebliche Einheit ist der jeweilige Betrieb bzw. die Verwaltung des privaten Rechts oder der von einer öffentlichen Verwaltung geführte und wirtschaftliche Zwecke verfolgende Betrieb.

Nicht maßgeblich ist insoweit der nationale Betriebsbegriff nach dem KSchG (vgl. §§ 1, 23, 24 Abs. 2 KSchG) oder dem BetrVG (vgl. §§ 1, 4, § 3 Abs. 5, § 117 BetrVG[1]).

4.2.1 Unionrechtskonforme Auslegung des Betriebsbegriffs

 

Rz. 51

Vielmehr ist im Rahmen der §§ 17 ff. KSchG ausschließlich der autonome unionsrechtliche Betriebsbegriff ausschlaggebend; der Betriebsbegriff in § 17 KSchG ist entsprechend unionrechtskonform auszulegen. Zwar sind Konstellationen denkbar, in denen der nationale und der europarechtliche Betriebsbegriff übereinstimmen, wie dies z. B. häufig der Fall sein wird, wenn der Arbeitgeber nur einen Betrieb hat. Soweit sich der Betriebsbegriff i. S. d. MERL und der Betriebsbegriff nach nationalem Verständnis aber nicht decken, ist allein das Verständnis des EuGH entscheidend.[1] Der EuGH versteht unter "Betrieb" i. S. d. MERL diejenige Einheit, der die von der Entlassung betroffenen Arbeitnehmer zur Erfüllung ihrer Aufgabe angehören. Es muss sich um eine "unterscheidbare Einheit von einer gewissen Dauerhaftigkeit und Stabilität handeln, die zur Erledigung einer oder mehrerer bestimmter Aufgaben bestimmt ist und über eine Gesamtheit von Arbeitnehmern sowie über technische Mittel und eine organisatorische Struktur zur Erfüllung dieser Aufgaben verfügt".[2] Da die MERL die sozioökonomischen Auswirkungen betrifft, die Massenentlassungen in einem bestimmten örtlichen Kontext und einer bestimmten sozialen Umgebung hervorrufen können, muss die fragliche Einheit weder rechtliche noch wirtschaftliche, finanzielle, verwaltungsmäßige oder technologische Autonomie besitzen, um als "Betrieb" qualifiziert werden zu können. Der Betrieb i. S. d. MERL muss darum auch keine Leitung haben, die selbstständig Massenentlassungen vornehmen kann. Vielmehr ist es ausreichend, wenn eine Leitung besteht, die die ordnungsgemäße Durchführung der Arbeit und die Kontrolle des Gesamtbetriebs der Einrichtungen der Einheit sowie die Lösung technischer Probleme im Sinne einer Aufgabenkoordinierung sicherstellt. Eine bestimmte räumliche Entfernung ist – anders als bei § 4 Abs. 1 Satz 1 Nr. 1 BetrVG – nach diesem Betriebsverständnis nicht erforderlich.[3] Die "Gesamtheit von Arbeitnehmern" setzt eine Zuordnung zu der Einheit dergestalt voraus, dass die Arbeitnehmer in dieser Einheit oder von dieser aus tätig werden und die Einheit rein tatsächlich über sie verfügen kann.[4]

 
Praxis-Beispiel

Beispiele

Danach fällt z. B. eine Produktionseinheit mit 420 Arbeitnehmern, eigener Ausstattung, eigenem Fachpersonal und eigenem Produktionsleiter unter den Begriff des "Betriebs", auch wenn sie kein eigenes Rechnungswesen hat.[5]

Betreibt z. B. ein Einzelhandelsunternehmen zahlreiche Ladengeschäfte, so ist jedes Ladengeschäft jeweils als ein Betrieb i. S. d. MERL anzusehen.[6] Werden in einem solchen Ladengeschäft nicht mehr als 20 Arbeitnehmer regelmäßig beschäftigt, greifen also die Pflichten aus §§ 17 ff. KSchG nicht ein, wenn es in diesem Ladengeschäft zu Entlassungen kommt.

Bei einer Fluggesellschaft ist im Hinblick auf die Bodenmitarbeiter maßgeblicher Betrieb i. S. d. § 17 KSchG die Station, in der sie tätig werden.[7] Maßgeblicher Betrieb für das fliegende Personal (Piloten und Besatzungsmitglieder/Kabinenpersonal) ist der jeweilige Stationierungsort (Heimatbasis), von dem aus die Arbeit beginnt und endet.[8] Der entsprechende Betrieb bleibt auch bei Nachkündigungen, die aufgrund der Unwirksamkeit der ersten Kündigung erklärt werden, maßgeblich, sofern die betroffenen Arbeitnehmer nicht zwischenzeitlich einem anderen Betrieb zugeordnet wurden (z. B. zur Durchführung von Abwicklungsarbeiten). Ohne Belang ist es, wenn die Station als "unterscheidbare Einheit" im Zeitpunkt des Kündigungszugangs nicht mehr existierte. Entscheidend ist, dass die Beschäftigten der vormaligen Station bis dahin keiner anderen Organisationseinheit zugeordnet worden waren.[9]

 

Rz. 52

Ob eine Einheit nach Maßgabe der Umstände im konkreten Einzelfall die Voraussetzungen dieses Betriebsbegriffs erfüllt, haben allein die nationalen Gerichte festzustellen.[10] Dies gilt auch, soweit in einer Unternehmensgruppe Matrix-Strukturen existieren und zu entlassende Arbeitnehmer nicht nur dem Weisungsrecht ihres Vertragsarbeitgebers unterliegen, sondern auch dem Weisungsrecht eines bei einem anderen Unternehmen angestellten Matrix-Managers....

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