Entscheidungsstichwort (Thema)

Beseitigungs- und Unterlassungsanspruch des Betriebsrates bei Auflagen, ärztliche Arbeitsunfähigkeitsbescheinigungen einzureichen, gegenüber Arbeitnehmern und Beamten. Mitbestimmung bei Regelungen zur Vorlage ärztlicher Arbeitsunfähigkeitsbescheinigungen. Beseitigungs- und Unterlassungsanspruch des Betriebsrates bei einseitiger Erteilung von Auflagen durch die Arbeitgeberin

 

Leitsatz (redaktionell)

1. Der Betriebsrat kann sich gegen zu erwartende Verletzungen seiner Mitbestimmungsrechte aus § 87 Abs. 1 BetrVG unabhängig von den Voraussetzungen des § 23 Abs. 3 BetrVG im Wege eines allgemeinen Unterlassungsanspruchs wehren.

2. Das Mitbestimmungsrecht des Betriebsrats bei Maßnahmen, die das Ordnungsverhalten der im Betrieb beschäftigten Arbeitnehmerinnen und Arbeitnehmer betreffen, beschränkt sich auf kollektive Tatbestände; ein solcher liegt vor, wenn sich eine Regelungsfrage stellt, die über eine ausschließlich einzelfallbezogene Rechtsausübung hinausgeht und kollektive Interessen der Beschäftigten des Betriebs berührt.

3. Ein kollektiver Tatbestand ist nicht nur gegeben, wenn die Arbeitgeberin allen Beschäftigten auferlegt, bereits vom ersten Tag der Arbeitsunfähigkeit an eine ärztliche Arbeitsunfähigkeitsbescheinigung vorzulegen; ob ein kollektiver Bezug vorliegt oder nicht, hängt nicht von der Zahl der betroffenen Beschäftigten sondern von dem Inhalt der Maßnahme ab, so dass es genügt, wenn sich eine Regelungsfrage stellt, die über eine ausschließlich einzelfallbezogene Rechtsausübung hinausgeht und kollektive Interessen der Arbeitnehmerinnen und Arbeitnehmer (einschließlich der zugewiesenen Beamtinnen und Beamten) des Betriebes berührt.

4. Dem Betriebsrat steht das Mitbestimmungsrecht auch zu, soweit die Arbeitgeberin als Konzerntochter die Deutsche T. AG aufforderte, den Beamtinnen und Beamten, denen nach § 4 Abs. 4 PostPersRG eine Tätigkeit bei ihr zugewiesen wurde und die an einem bestimmten Standort tätig sind, eine Attestauflage zu erteilen; diese Beamtinnen und Beamte gelten gemäß § 24 Abs. 3 Satz 1 PostPersRG für die Anwendung des Betriebsverfassungsrechts als Arbeitnehmerinnen und Arbeitnehmer der Arbeitgeberin.

5. Das Mitbestimmungsrecht ist nicht durch den Gesetzes- und Tarifvorbehalt in § 87 Abs. 1 (Eingangssatz) BetrVG ausgeschlossen; § 5 Abs. 1 Satz 3 EFZG stellt keine das Mitbestimmungsrecht nach § 87 Abs. 1 Nr. 1 BetrVG ausschließende Regelung dar, weil es der Arbeitgeberin einen Regelungsspielraum hinsichtlich der Frage eröffnet, ob und wann die Arbeitsunfähigkeit vor dem vierten Tag nachzuweisen ist.

6. Auch in § 96 Abs. 1 BBG wird nicht abschließend bestimmt, auf welche Weise Dienstunfähigkeit infolge Krankheit nachzuweisen ist; § 21 MTV-DTAG enthält ebenfalls keine abschließende Regelung, die ein Mitbestimmungsrecht des Betriebsrats nach § 87 Abs. 1 Nr. 1 BetrVG ausschließt.

7. Soweit die Arbeitgeberin gemäß § 21 Abs. 1 Satz 5 MTV-DTAG in begründeten Fällen berechtigt ist, bereits vom ersten Tag der Arbeitsunfähigkeit die Vorlage einer ärztlichen Bescheinigung zu verlangen, verbleibt ihr weiterhin ein Regelungsspielraum, der Voraussetzung für das Bestehen des Mitbestimmungsrechts ist.

 

Normenkette

BetrVG § 87 Abs. 1 Nr. 1; PostPersRG § 4 Abs. 4, § 24 Abs. 3; BBG § 96 Abs. 1; EFZG § 5 Abs. 1 Sätze 2-4; MTV-DTAG § 21 Abs. 1 S. 5; ZPO § 253 Abs. 2 Nr. 2

 

Verfahrensgang

ArbG Neuruppin (Entscheidung vom 24.08.2011; Aktenzeichen 5 BV 28/11)

 

Tenor

I. Auf die Beschwerde des Beteiligten zu 1 wird der Beschluss des Arbeitsgerichts Neuruppin vom 24. August 2011 - 5 BV 28/11 - abgeändert.

II. Der Beteiligten zu 2 wird aufgegeben,

1. den Arbeitnehmern Anne-Margit G., Dirk-Ingolf M., Franziska R., Anke Sch., Margitta K., Carola Kl. und Rainer A. mitzuteilen, dass die ihnen erteilten Attestauflagen unwirksam sind;

2. den Beamten Andre W., Beate D., Andrea N., Doris Wi. und Heike S., denen gemäß § 4 Abs. 4 PostPersRG eine Tätigkeit im Unternehmen der Beteiligten zu 2 zugewiesen ist, mitzuteilen, dass die ihnen erteilten Attestauflagen unwirksam sind;

3. es zu unterlassen, Arbeitnehmern die Auflage zu erteilen, ärztliche Arbeitsunfähigkeitsbescheinigungen vorzulegen, wenn nicht ein Fall des § 5 Abs. 1 Satz 2 bzw. Satz 4 EFZG vorliegt, es sei denn, der Beteiligte zu 1 hat der Erteilung zugestimmt oder die Zustimmung wurde durch den Spruch der Einigungsstelle ersetzt;

4. es zu unterlassen, die Deutsche T. AG aufzufordern, Beamten, denen nach § 4 Abs. 4 PostPersRG eine Tätigkeit im Unternehmen der Beteiligten zu 2 zugewiesen worden ist, die Auflage zu erteilen, eine ärztliche Arbeitsunfähigkeitsbescheinigung vorzulegen, es sei denn, der Beteiligte zu 1. hat der Erteilung zugestimmt oder die Zustimmung wurde durch den Spruch der Einigungsstelle ersetzt.

III. Für jeden Fall der Zuwiderhandlung gegen die Verpflichtungen aus Ziffer II. 3 und 4 wird der Beteiligten zu 2 ein Ordnungsgeld bis zu 10.000,00 Euro angedroht.

IV. Die Rechtsbeschwerde wird zugelassen.

 

Gründe

A. Die Beteiligten streiten dar...

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